Wenn die Bewegung stirbt
Die Amyotrophe Lateralskelrose, kurz ALS, ist eine neurodegenerative Erkrankung, die eine ganz bestimmte Gruppe von Nervenzellen betrifft: die motorischen Nervenzellen, auch Motoneuronen genannt. Sie befinden sich in Gehirn und Rückenmark und sind für die Steuerung der Muskeln zuständig. Die Motoneuronen werden durch die Krankheit zerstört. Die Folge sind fortschreitende Muskellähmungen. Patientinnen und Patienten können auf einen Rollstuhl angewiesen sein, im späteren Verlauf der Erkrankung haben sie aber auch Schwierigkeiten zu sprechen und zu schlucken. Im finalen Stadium kommt es auch zu Lähmungen der Atemmuskulatur.
Die Erkrankung ist selten: Jedes Jahr erkranken in Europa etwa drei von 100.000 Menschen neu an Amyotropher Lateralsklerose. In Deutschland gibt es derzeit etwa 8.000 bis 9.000 Patienten; im Jahr erkranken hierzulande etwa 2.500 Menschen neu an der ALS. Meist erkranken Menschen im Alter zwischen 60 und 80 Jahren. Aber auch Jüngere können betroffen sein: Der wohl bekannteste ALS-Patient, Stephen Hawking, war gerade 21 Jahre alt, als die Krankheit bei ihm diagnostiziert wurde – eine langsam verlaufende Form. Der Physiker Hawking lebte viele Jahrzehnte lang mit der Erkrankung. Bei den meisten Betroffenen führt ALS jedoch innerhalb weniger Jahre zum Tod. Männer sind etwas häufiger als Frauen von der Krankheit betroffen.
Fortschreitende Muskelschwäche
Kennzeichnend für ALS ist eine fortschreitende Muskellähmung, die sich unterschiedlich bei den Erkrankten zeigen kann. Häufig beginnt sie an Armen und Händen, in der Regel zunächst nur auf einer Seite, wo sie sich häufig durch Schwierigkeiten beim Greifen oder Schreiben bemerkbar macht. Genauso häufig sind zuerst die Beine betroffen. Bei rund einem Viertel der Patientinnen und Patienten treten zuerst Beschwerden beim Schlucken oder Sprechen auf (sogenannte bulbäre Symptome).
Wie sich ALS bemerkbar macht, hängt davon ab, welche Art von Motoneuronen als erstes geschädigt wird. Störungen der Augenmuskeln oder der Schließmuskeln von Blase und Darm zählen nicht zu den Symptomen.
Das sensorische Empfinden, also Tastsinn und Temperaturempfinden, Schmecken, Riechen, Hören und Sehen, bleibt erhalten. Auch Bewusstsein und Denkvermögen sind in der Regel nicht in Mitleidenschaft gezogen: Im Krankheitsverlauf können sich Patientinnen und Patienten ihrer Umgebung nicht mehr mitteilen, obwohl sie im Kopf klar bleiben. Bei rund fünf Prozent aller Betroffenen kommt es allerdings zu kognitiven Veränderungen und einer sogenannten Frontotemporalen Demenz (FTD). Wie aggressiv und wie schnell die ALS im jeweiligen Einzelfall voranschreitet und wann sie zum Tode führen wird, lässt sich derzeit nicht individuell vorhersagen, da die Verläufe sehr unterschiedlich sein können.
Ungeklärte Ursachen
Bei etwa fünf Prozent der ALS-Patientinnen und -Patienten wird die Krankheit vererbt, sie tritt familiär gehäuft auf. Durch eine Genveränderung ist der Zellstoffwechsel der Betroffenen in Mitleidenschaft gezogen, was letztlich zur Schädigung der Nervenzellen führt. Bei den anderen 95 Prozent, also bei der überwiegenden Mehrheit der Erkrankungen, kennt man die Ursachen für die Degeneration der Motoneuronen bislang nur unzureichend.
Symptomen begegnen
Eine Behandlung, die das Fortschreiten der ALS aufhalten oder die Krankheit heilen könnte, gibt es bislang nicht. Die Erkrankung verläuft stets tödlich. Die Therapie zielt daher vorrangig darauf ab, Beschwerden zu lindern und mit geeigneten Hilfsmitteln den Alltag zu erleichtern. Im Mittelpunkt steht dabei, die Lebensqualität und die Selbstbestimmung der Betroffenen soweit wie möglich aufrecht zu erhalten.
Als derzeit einzige zugelassene medikamentöse Therapie steht ein Arzneiwirkstoff namens Riluzol zur Verfügung. Er kann den Krankheitsverlauf verzögern und dadurch die Überlebenszeit verlängern. Wichtige zusätzliche Maßnahmen sind Ergotherapie, Logopädie, die Unterstützung der Beatmung mit nichtinvasiver Heimbeatmung sowie die Sicherung der Ernährung mit dem Ziel, das Gewicht zu halten.
ALS-Forschung am DZNE
Was die erbliche Form der ALS betrifft, wird am DZNE derzeit daran geforscht, mit Medikamenten, die die Genregulation beeinflussen, den Effekt der krankmachenden Gene zu reduzieren. Forscherinnen und Forscher des DZNE engagieren sich außerdem dafür, die Krankheitsmechanismen hinter der ALS besser zu verstehen. Dabei nehmen sie auch Entzündungsprozesse ins Visier, die für den Verlust der Nervenzellen eine Rolle spielen könnten. Außerdem gilt das Augenmerk von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des DZNE dem Zusammenhang zwischen ALS und der frontotemporalen Demenz. Mit ihren grundlegenden Erkenntnissen über die Krankheit ebnen sie den Weg dafür, Ansatzpunkte für neue Therapien zu finden. Derzeit werden im DZNE mehrere Therapiestudien mit neuartigen Wirkmechanismen und Medikamenten durchgeführt.
Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DZNE suchen nach geeigneten Biomarkern, d. h. typischen messbaren Veränderungen z. B. im Blut oder Nervenwasser, um das Fortschreiten der Erkrankung besser voraussagen zu können.
Charcot: Begründer der Neurologie und Entdecker der ALS
Es war der französische Arzt Jean-Martin Charcot, der vor rund 150 Jahren die Amyotrophe Lateralsklerose zuerst beschrieb. Charcot wurde 1825 in Paris geboren. Da er unter seinen vier Brüdern als bester Schüler hervorstach, wählte sein Vater ihn für eine höhere Bildung aus. Charcot studierte Medizin und wurde später Chefarzt des Hospital de la Salpêtrière in Paris. Charcot gilt als Begründer der modernen Neurologie. Außerdem tat er sich wissenschaftlich dadurch hervor, dass es ihm gelang, klinische Symptome mit anatomischen Befunden überein zu bringen, so etwa bei der Multiplen Sklerose, von der er die ALS – zunächst nach ihrem Erstbeschreiber als Maladie Charcot, also als Charcot-Erkrankung bezeichnet – als eigenständige Erkrankung abgrenzte. Charcot beschrieb die Veränderungen im Nervengewebe bei der ALS sehr genau. Außerdem sagte er damals bereits voraus, dass es noch lange dauern würde, bis es gelänge, diese Krankheit zu behandeln.
Stand: 22.11.2021