C9orf72: Eine Gen-Mutation mit gefährlichen Folgen
Das Chromosom 9 war schon lange im Visier der Forscherinnen und Forscher: Etwas kann damit nicht stimmen bei Patienten mit Amyotropher Lateralskelrose (ALS), das ahnten sie schon jahrelang, irgendeine Mutation muss genau an dieser Stelle vorliegen. Rund um den Jahreswechsel 2011 und 2012 wurde die Wissenschaft dann fündig, sie entdeckte das Gen C9orf72. Bei etwa acht Prozent der ALS-Betroffenen in Deutschland ist es mutiert – und diese Mutation gilt seither als vielversprechender Ansatzpunkt für neuartige Therapien. Besonders interessant: Es ist der erste entschlüsselte Mutation, die sowohl bei ALS als auch Frontotemporalen Demenz (FTD) auslöst – das passt zu der schon länger gehegten Ansicht, dass ALS und FTD zu einem Spektrum von Erkrankungen mit teils überlappenden Symptomen gehören.
Der Name „C9orf72“ (chromosome 9 open reading frame 72) klingt kompliziert, ist aber eigentlich nur die genetische Adresse des Gens. „C9“ steht für Chromosom 9, „orf“ bezeichnet im Fachjargon einen Abschnitt im Erbgut, der für die Bildung eines Proteins verantwortlich ist, und „72“ gibt die Position an.
Tausendfache Kopien als Problem
C9orf72 spielt eine wichtige Rolle beim Abtransport und Abbau von Zellabfällen in sogenannten Vesikeln. Das sind winzige Bläschen mit einer Membranhülle, vergleichbar mit winzigen Seifenblasen, die defekte Zellbestandteile und auch bestimmte Botenstoffe abbauen. Das Gen C9orf72 enthält die Bauanleitung für ein Protein, das diesen Prozess steuert. Bei ALS- und FTD-Patienten mit einer C9orf72-Mutation wird weniger von diesem Eiweiß gebildet, sodass der Prozess gestört ist.
Die spezielle Art der Mutation wird in der Fachsprache als Repeat-Expansion-Mutation bezeichnet. Normalerweise wird ein kurzer Abschnitt („GGGGCC“) im Code des C9orf72-Gens zwei- bis zwanzigmal wiederholt. Bei erkrankten Menschen sind es jedoch Tausende von Wiederholungen. Man kann sich das wie Stottern vorstellen: Dieselbe Sequenz wird sehr oft wiederholt. Genau nach diesen Wiederholungen sucht man im Labor mit einem Gentest, wenn der Verdacht auf eine erbliche ALS oder FTD besteht.
Was die Mutation bewirkt
In der Forschung gibt es drei Hypothesen, was diese Wiederholungen im Körper bewirken.
Hypothese Nummer eins: Wenn durch die Mutation weniger C9orf72-Proteine gebildet werden, ist die zelluläre Müllabfuhr gestört. Dadurch können sich fehlgefaltete Proteine ablagern und Entzündungsprozesse aktiviert werden.
Hypothese Nummer zwei: Beim normalen Ablesen der genetischen Information wird aus der repetitiven und damit fehlerhaften DNA eine molekulare Abschrift in Form sogenannter RNA erzeugt. Diese ebenfalls repetitive RNA ist schädlich, weil sich fälschlicherweise Proteine an sie binden, die dann ihre eigentliche Funktion nicht mehr ausüben können. Diese Proteine werden also gewissermaßen gefesselt und können dadurch ihre Aufgabe nicht mehr erledigen.
Hypothese Nummer drei: Die repetitive RNA kann fälschlicherweise in repetitive Proteine übersetzt werden, die am DZNE entdeckt wurden (Mori et al, Science 2013) und die Nervenzellen schädigen.
Wahrscheinlich löst eine Kombination dieser Mechanismen die Krankheit aus.
Wo eine Therapie ansetzen könnte
Die Wissenschaft arbeitet an Medikamenten, die die Bildung der schädlichen repetitiven RNA und der repetitiven Proteine verhindern sollen. Eines dieser Medikamente, ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid, wurde bereits in klinischen Studien getestet, allerdings ohne Erfolg.
Parallel dazu forschen Experten an anderen Möglichkeiten, zum Beispiel am Gen-Editing. Dabei soll die Mutation mit einer Genschere herausgeschnitten und korrigiert werden. Auch eine Art Impfung könnte in Zukunft helfen, die Krankheit zu bekämpfen. Ein solcher Ansatz gegen die Repeat-Proteine wird am DZNE weltweit führend verfolgt ("DZNE und Intravacc erhalten EU-Förderung für die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die Motoneuron-Krankheit ALS" und GA-VAX). Die Besonderheit: Die Repeat-Proteine kommen nur bei Menschen vor, die eine entsprechende Mutation haben und bei denen die Proteine deshalb keine normale Funktion in der Zelle ausüben. Dadurch gehen Forscherinnen und Forscher davon aus, dass ein solcher Therapieansatz ohne Nebenwirkungen möglich ist. Dieser entscheidende Unterschied zu anderen Therapieansätzen könnte sogar eine vorbeugende Impfung bei bekannten Mutationsträgern ermöglichen.
Stand: 11.12.2024