Fortschreitender Verlust kognitiver Fähigkeiten

Demenz ist nicht allein eine Frage des Alters. Auch Kinder und Jugendliche können von fortschreitenden neurodegenerativen Erkrankungen des Gehirns betroffen sein. Mehr als 250 verschiedene Erkrankungen sind mittlerweile bekannt, die die kognitiven Fähigkeiten von Kindern beeinträchtigen. Diese zusammenfassend als „Kinderdemenz“ bezeichneten Erkrankungen zählen zu den seltenen Krankheiten: Je nach Krankheitsform der Kinderdemenz sind zwischen 1 von 2.000 und 1 von 500.000 Neugeborenen betroffen. Beispiele sind die zerebrale Form der X-chromosomalen Adrenoleukodystrophie (X-ALD), die Metachromatische Leukodystrophie (MLD), die Neuronalen Ceroidlipofuszinosen (NCL), das Alpers Syndrom und die Nieman-Pick-Krankheit Typ C. Manche Formen der Kinderdemenz sind so selten, dass Fachleute weltweit nur wenige Fälle beschrieben haben. Ein Beispiel für eine ultraseltene kindliche neurodegenerative Erkrankung des Gehirns ist die Multiple Sulfatasedefizienz.

In den meisten Fällen entwickeln sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen zunächst völlig unauffällig und haben altersgemäße, kognitive und motorische Fähigkeiten. Abhängig von der Erkrankungsform verlieren sie diese Fähigkeiten jedoch unaufhaltsam wieder, es kommt zu Störungen oder zum gänzlichen Verlust motorischer und kognitiver Fähigkeiten sowie häufig auch zu Hör- und Sehstörungen. Viele der jungen Patienten leiden zudem unter Krampfanfällen. Die betroffenen Kinder werden zunehmend pflegebedürftig und schließlich bettlägerig. Meist führen die Erkrankungen in den ersten beiden Lebensjahrzehnten zum Tod. Wie früh sich Symptome zeigen und wie schnell sich diese verschlimmern, hängt von der jeweiligen Erkrankungsform ab.

Genetisch bedingte Stoffwechselstörungen

Ursache für Kinderdemenz sind erbliche Gendefekte, die oftmals einen gestörten Stoffwechsel im Gehirn zur Folge haben. Das kann bedeuten, dass wichtige Bausteine für den Aufbau, die Erhaltung und die Funktion von Hirngewebe und Nervenzellen fehlen. Oder toxische Stoffwechselprodukte werden nicht ordnungsgemäß abgebaut und lagern sich ab. In der Konsequenz nehmen Nervenzellen Schaden und sterben schließlich ab. 

2009 entdeckte und beschrieb das Team um die Göttinger Kinder-Neurologin Prof. Dr. Jutta Gärtner, die auch am DZNE forscht, erstmals eine bis dahin nicht bekannte Form der Kinderdemenz: die cerebrale Folatdefizienz (CFD). Die Forschenden hatten erkannt: Defekte Transportsysteme verhindern, dass Folat – eine unverzichtbare Substanz für eine gesunde Nervenzellfunktion – aus dem Blut ins Gehirn transportiert wird. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis gelang es, den defekten Transporter an der Blut-Hirn-Schranke zu identifizieren und eine Therapie zu entwickeln. Betroffene Kinder bekommen Folat in das Blut und direkt in die Gehirnflüssigkeit verabreicht, wodurch sich bei rechtzeitiger Behandlung ein Ausbruch der Erkrankung bzw. nach Ausbruch ein Fortschreiten der Erkrankung verhindern lässt.

Auch für einige andere dieser seltenen neurodegenerativen Erkrankungen bei Kindern existieren wirkungsvolle Behandlungsansätze, bei denen fehlende Substanzen oder Enzyme von außen zugeführt werden, so etwa bei der MLD und einer speziellen Form der NCL. Bei einigen Erkrankungen wie beispielsweise der X-ALD kann eine Transplantation von blutbildenden Stammzellen (hämatopoetischen Stammzellen) oder eine Gentherapie hilfreich sein. Doch auch wenn es für einige wenige kindliche neurodegenerative Erkrankungen bereits wirkungsvolle Therapieansätze gibt, existiert für die Mehrzahl dieser Erkrankungen bislang keine ursächliche Therapie, durch die sich eine vollständige Heilung erzielen lässt.

Kinderdemenzen verstehen – Diagnose und Therapiemöglichkeiten verbessern

Forschende des DZNE untersuchen detailliert den genetischen Hintergrund und die biochemischen und zellbiologischen Mechanismen, die zur Krankheitsentstehung führen. Sie wollen so die Grundlage für neue Therapieansätze für die verschiedenen Erkrankungen schaffen. Das kann zum Beispiel gelingen, wenn bekannt ist, welches Enzym oder welche Substanz bei den betroffenen Kindern fehlt und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Weg finden, diese ins Gehirn zu bringen.

Ein weiterer wichtiger Forschungsbereich widmet sich den Parallelen zwischen Kinderdemenzen und neurodegenerativen Erkrankungen des Erwachsenenalters. Von einem besseren Verständnis der Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Krankheiten erhoffen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Synergieeffekte: So könnten Erkenntnisse aus der Erforschung von Kinderdemenzen helfen, bessere Therapieansätze für Erwachsene zu finden, um den kognitiven Abbau  zumindest zu verlangsamen.

Schließlich fahnden Forschende auch nach geeigneten Biomarkern, um verschiedene Kinderdemenzen möglichst früh zu erkennen und eine präzise Diagnose zu stellen. Eine frühe Diagnose ist zum Beispiel für solche Kinderdemenzen entscheidend, bei denen es gelingt, den neurodegenerativen Verlauf durch Verabreichen der fehlenden bzw. defekten Substanzen zu verlangsamen oder sogar zu stoppen. Je früher die Behandlung beginnt, umso geringer ist der Verlust an Nervenzellen und damit motorischer und kognitiver Fähigkeiten. Da sich auch bei Kindern einmal verlorenes Nervengewebe nicht in ausreichendem Umfang regenerieren lässt, ist eine frühzeitige Therapie ganz entscheidend für das weitere Leben der Betroffenen. 

Beispiel einer Kinderdemenz, die bereits vor fast 200 Jahren beschrieben wurde

Es war im Jahr 1826, als der norwegische Arzt Otto Christian Stengel erstmals Fälle der Kinderdemenz beschrieb. In der südost-norwegischen Gemeinde Røraas traf er auf eine Familie mit vier Kindern – zwei Jungs und zwei Mädchen – die alle ab einem Alter von sechs Jahren zunächst ihre Sehkraft und später sukzessive ihre Sprache und ihr Denkvermögen verloren. Die Kinder litten zudem an epileptischen Anfällen. Alle vier verstarben früh. Stengels Beschreibung entspricht den der Symptomatik der juvenilen Form der Neuronalen Ceroid-Lipofuszinose (CLN3). Er veröffentlichte seine Beobachtung in einer norwegischen Fachpublikation für Medizin, fand damit aber keine Beachtung.

Stand: 22.11.2021

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