Bonn, 9. Juni 2020. Nervenzellen im Gehirn, die für neue Erfahrungen zuständig sind, stören die Signale von Zellen, die Erinnerungen enthalten und legen eigene Signale darüber. Dadurch wird das Gedächtnis gehemmt - zumindest bei Mäusen. Ein Forschungsteam um Martin Fuhrmann vom DZNE berichtet darüber im Fachjournal „Nature Neuroscience“. Diese Studienergebnisse werfen möglicherweise neues Licht auf die gestörte Erinnerung bei einer Alzheimer-Erkrankung.
Der Hippocampus ist jener Bereich im Gehirn, der für Erinnerungen zuständig ist – und eines der Areale, die als erstes bei einer Alzheimer-Demenz betroffen sind. Nervenzellen im Hippocampus reagieren auf Erfahrungen und verknüpfen sich zu Netzwerken, die Erinnerungen beinhalten. Erlerntes und Erlebtes kann dadurch abgefragt werden: So erinnert man sich zum Beispiel an den Weg nach Hause oder zur Arbeit. Menschen mit Demenz können solche räumlichen Erinnerungen häufig nicht mehr abrufen − denn ein bestimmter Bereich im Hippocampus, die sogenannte CA1-Region, die für das räumliche Gedächtnis verantwortlich ist, ist bei einer Alzheimer-Demenz stark betroffen. Bislang nahm man an, dass jene Zellnetzwerke in dieser Hirnregion nicht in geeigneter Weise aktiviert werden können, weil sie krankheitsbedingt geschädigt sind und die Erinnerung somit für immer verloren ist. Aber offenbar geschieht das Vergessen bei Alzheimer − jedenfalls im Maus-Modell ─ anders: Ein Forschungsteam des DZNE hat Mäuse untersucht, bei welchen sich die gleichen Eiweiß-Stoffe (sogenannte Amyloid-Beta-Plaques) im Gehirn abgelagert hatten wie bei Menschen mit Alzheimer-Demenz. Diese Ablagerungen hatten bei den Mäusen zu einem Alzheimer-ähnlichen Krankheitsbild geführt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass die für das Erinnerungsvermögen zuständigen Zellen dieser Mäuse immer noch Aktivität zeigten. Doch die Mäuse konnten ihre Erinnerungen trotzdem nicht abrufen.
Signale anderer Nervenzellen stören die Erinnerung
„Das liegt daran, dass andere Nervenzellen in der CA1-Region, die für neue Erfahrungen zuständig sind, die Signale der erinnerungsenthaltenden Zellen stören und eigene Signale darüberlegen“, sagt Dr. Martin Fuhrmann, Gruppenleiter am DZNE. „Man kann sich das wie eine Funkstörung im Fernsehen vorstellen: Das Fernsehbild wird unscharf und verzerrt, es sind womöglich sogar Streifen oder Pixel zu sehen. Etwas Ähnliches ist bei den Mäusen passiert: Störsignale haben ihre Erinnerung unterdrückt. Diese Störung ist offenbar eine Folge der krankhaften Hirnveränderungen.“
Wenn sich gesunde Mäuse an eine Situation wie das Erlernen eines Weges oder das Erkunden eines Raumes erinnern können, wird ein Netzwerk aus Nervenzellen in deren Hippocampus reaktiviert, das bei der ersten Erfahrung in dieser Situation bereits aktiv war. Um herauszufinden, was mit diesem Netzwerk passiert, führten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Experiment durch: Dabei erkundeten gesunde Mäuse und solche mit krankhaften Hirnveränderungen, die in ähnlicher Form bei Alzheimer auftreten, eine unbekannte Umgebung. Mit Hilfe einer besonderen Messtechnik – der Zwei-Photonen-in-vivo-Mikroskopie – konnten die Forschenden dabei die Aktivität einzelner Nervenzellen des Hippocampus erfassen. Wenn die verschiedenen Mäuse ein paar Tage später wieder derselben Umgebung ausgesetzt waren, verhielten sie sich unterschiedlich: Die gesunden Mäuse erkannten die Umgebung wieder, die Mäuse mit Alzheimer-ähnlichen Hirnschädigungen jedoch nicht. Die Mäuse erkundeten den Raum, als ob er völlig neu für sie wäre. Das ging mit Unterschieden in der Hirnaktivität einher. Dr. Stefanie Poll, Postdoc in Martin Fuhrmanns Forschungsgruppe und Erstautorin der Studie, erklärt: „Bei den Mäusen mit Alzheimer-ähnlichen Krankheitsbild waren beim zweiten Besuch nicht nur Zellnetzwerke aktiv, die Erinnerungen beinhalteten, sondern auch Netzwerke, in denen keine Erinnerungen gespeichert waren und die eine neue Erfahrung verarbeiteten. Dadurch kam es zu einer Überlagerung, also zu Störsignalen.“
Um das zu verifizieren, nutzten die Forschenden ein Verfahren, das auf der Kombination von chemischen Molekülen und Gentechnik beruht: die „Chemogenetik“. Nervenzellen, welche auf Neuigkeiten reagieren, wurden dadurch empfindlich für ein bestimmtes chemisches Molekül. „Durch Zugabe dieses Moleküls konnten diese speziellen Nervenzellen im Gehirn der Mäuse dann beeinflusst werden. Man kann sich das wie eine Art Schalter vorstellen. Das Molekül legt den Schalter um“, sagt Stefanie Poll.
An- und Ausschalten von Nervenzellen, die auf Neues reagieren
„So konnten wir die Nervenzellen, die neue Erfahrungen verarbeiteten, gezielt an- und ausschalten, also ihre Aktivität steuern“, erläutert Martin Fuhrmann. „Bei den erkrankten Mäusen haben wir diese Zellnetzwerke ausgeschaltet und bei den gesunden Mäusen haben wir sie angeschaltet.“ Auf diese Weise war es möglich, das Störfeuer im Gehirn zu beseitigen beziehungsweise gezielt auszulösen. Dies zeigte sich im Verhalten. „Die Mäuse mit Alzheimer-ähnlichem Krankheitsbild konnten die Versuchsumgebung nun wiederkennen. Ihr Gedächtnis kam zurück. Die gesunden Mäuse hingegen konnten sich jetzt nicht mehr erinnern“, so Stefanie Poll.
„Diese Ergebnisse deuten auf einen bislang unbekannten Prozess im Gehirn hin, der zu Gedächtnisstörungen bei Alzheimer beiträgt“, erklärt Martin Fuhrmann. „Theoretisch könnte das für Therapien der Zukunft bedeuten, dass Alzheimer-Betroffene und Menschen mit Amnesie womöglich ihr Gedächtnis zurückbekämen, indem man bei ihnen mit Hilfe noch zu etablierender Methoden die Aktivität bestimmter Netzwerke von Nervenzellen dämpft. Andererseits wäre es vielleicht möglich, dass man bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen die Aktivität dieser Netzwerke verstärkt und dadurch belastende Erinnerungen überschreibt. Ob sich unsere Erkenntnisse aber genauso auf den Menschen übertragen lassen, müssen zukünftige Studien zeigen.“
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Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE)
Das DZNE erforscht sämtliche Aspekte neurodegenerativer Erkrankungen (wie beispielsweise Alzheimer, Parkinson und ALS), um neue Ansätze der Prävention, Therapie und Patientenversorgung zu entwickeln. Durch seine zehn Standorte bündelt es bundesweite Expertise innerhalb einer Forschungsorganisation. Das DZNE kooperiert eng mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene. Das DZNE ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft.