Autoantikörper in der Schwangerschaft: Ursache für Verhaltensstörungen beim Kind?

Gemeinsame Pressemitteilung des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin

Berlin, 18. September 2019 – Störungen im mütterlichen Immunsystem, die während der Schwangerschaft auftreten, könnten beim ungeborenen Kind möglicherweise zu einer Beeinträchtigung der Hirnentwicklung führen. Darauf deuten Untersuchungen des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin hin, die auf Laborversuchen und zusätzlichen Befunden am Menschen beruhen. Den Studienergebnissen zufolge könnten embryonale Schäden durch sogenannte Autoantikörper eine bisher nicht beachtete Ursache für Verhaltensstörungen sein, die bei Erkrankungen wie Autismus, Schizophrenie und ADHS auftreten. Die Forschungsresultate sind im Fachjournal „Annals of Neurology“ veröffentlicht.

Während der Schwangerschaft gelangen ständig Antikörper aus dem mütterlichen Blut über die Nabelschnur in den embryonalen Kreislauf, um das sich entwickelnde Kind vor Infektionen zu schützen. Doch nicht alle mütterlichen Antikörper richten sich gegen Fremdstoffe und dienen der Abwehr von Krankheitserregern. Einige Antikörper – die sogenannten Autoantikörper –  binden körpereigenes Gewebe und können so Schäden verursachen, die sich beispielsweise als Autoimmunerkrankungen zeigen. Wie auch die nützlichen Antikörper gibt eine Schwangere die potenziell schädlichen Autoantikörper an ihr Ungeborenes weiter. Dies könnte beim Kind die Entstehung von Verhaltensstörungen begünstigen, wie aktuelle Untersuchungen im Tiermodell nahelegen. Erste Daten aus Studien am Menschen stützen diese Ergebnisse.

Gefährliche Antikörper

Die aktuelle Studie, geleitet von Privatdozent Dr. Harald Prüß vom DZNE-Standort Berlin und der Klinik für Neurologie und Experimentelle Neurologie am Campus Charité Mitte, konzentrierte sich auf einen Autoantikörper, der sich gegen ein bestimmtes Eiweiß auf der Oberfläche von Hirnzellen richtet. Dieses Molekül mit der Bezeichnung „NMDA-Rezeptor“ ist für die Verschaltung von Nervenzellen und eine normale Hirnentwicklung unerlässlich. „Der NMDA-Rezeptor-Antikörper ist ein relativ häufiger Autoantikörper. Daten aus Blutspenden lassen vermuten, dass bis zu einem Prozent der Bevölkerung diesen speziellen Autoantikörper im Blut tragen könnte. Die Ursachen dafür sind weitgehend unklar“, erläutert Prüß. Gelangt dieser Autoantikörper ins Gehirn, können schwerwiegende Entzündungen entstehen. Allerdings sind die meisten Träger frei von solchen Symptomen, denn die Blut-Hirn-Schranke – ein filterndes Gewebe, das die Blutgefäße des Gehirns umgibt – ist für Antikörper in der Regel kaum passierbar. Es sei denn, diese Barriere ist beschädigt oder wie bei einem Embryo im frühen Entwicklungsstadium noch nicht voll ausgebildet.

„Wir gingen der Hypothese nach, dass die NMDA-Rezeptor-Antikörper ins Gehirn des Embryos gelangen und in dieser wichtigen Phase der Hirnentwicklung zu zwar subtilen, aber nachhaltigen Störungen führen“, erklärt Prüß. In der Tat zeigte sich bei Mäusen, dass die mütterlichen Autoantikörper in hohem Maße das Gehirn des Embryos erreichten. In der Folge kam es zum Abbau von NMDA-Rezeptoren, veränderten physiologischen Funktionen und einer gestörten neuronalen Entwicklung. Die Nachkommen zeigten Verhaltensauffälligkeiten und manche Hirnbereiche waren im Vergleich zu gesunden Tieren kleiner ausgebildet. „Diese bislang unbekannte Form Trächtigkeits-assoziierter Hirnerkrankungen erinnert an psychiatrische Störungen, die durch Röteln- oder Windpocken-Erreger ausgelöst werden. Auch bei solchen Infektionen kommt es nur kurzzeitig zu einer Einwirkung auf das Gehirn, die aber lebenslange Folgen haben kann“, sagt Prüß.

Befunde am Menschen

Beim Menschen legen erste Analysen von Daten aus einer Gruppe von 225 Müttern nahe, dass diese Autoantikörper tatsächlich gehäuft bei Frauen vorkommen, die ein Kind mit einer neurobiologischen Entwicklungsstörung oder psychiatrischen Erkrankung haben. Die Mütter selbst scheinen durch die Blut-Hirn-Schranke geschützt zu sein. „Weitere Studien sind nötig, um den Zusammenhang zwischen mütterlichen NMDA-Rezeptor-Antikörpern und psychiatrischen Erkrankungen beim Menschen zu erhärten“, betont Prüß. „Sollten zukünftige Forschungsergebnisse unsere These jedoch bekräftigen, müsste eine Suche nach solchen Antikörpern bei Schwangeren in die Vorsorge aufgenommen werden. Dann könnte man gegebenenfalls eine Behandlung zur Entfernung der Autoantikörper einleiten, um die ansonsten wohl lebenslangen gesundheitlichen Auswirkungen auf das Kind zu verhindern.“

Die aktuellen Ergebnisse könnten erklären, warum bisherige Studien keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen NMDA-Rezeptor-Antikörpern und psychiatrischen Erkrankungen wie der Schizophrenie nachweisen konnten. Denn im Neugeborenen sind die von der Mutter übertragenen Antikörper nach wenigen Wochen abgebaut. Fahndete man bislang bei Patienten im zumeist jungen Erwachsenenalter nach diesen Autoantikörpern, so waren diese längst verschwunden.

Medienkontakt

Prof. Dr. Harald Prüß
Gruppenleiter
harald.pruess(at)dzne.de
+49 30 450-560122
Dr. Marcus Neitzert
Presse
marcus.neitzert(at)dzne.de
+49 228 43302-267

Originalveröffentlichung

Human gestational NMDAR autoantibodies impair neonatal murine brain function, Betty Jurek, Mariya Chayka et al., Annals of Neurology (2019), DOI: 10.1002/ana.25552

Invited Commentary

Do maternal anti–N‐methyl‐D‐aspartate receptor antibodies promote development of neuropsychiatric disease in children? Anne‐Katrin Pröbstel, Scott S. Zamvil, Annals of Neurology (2019), DOI: 10.1002/ana.25584

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