Untersuchung mit Daten aus Deutschland und Spanien eröffnet neue Diagnosemöglichkeiten
Bonn, 18. Juni 2024. Forschende des DZNE zeigen in einer Studie mit 991 Erwachsenen, dass sich die häufigsten Formen von Frontotemporaler Demenz (FTD) sowie die Nervenerkrankungen Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) und Progressive Supranukleäre Blickparese (PSP) per Bluttest erkennen lassen. Ihr Verfahren ist noch nicht bereit für den medizinischen Alltag, könnte aber langfristig die Krankheitsdiagnose erleichtern und schon jetzt die Entwicklung neuer Therapien voranbringen. Die im Fachjournal Nature Medicine veröffentlichten Befunde beruhen auf der Messung bestimmter Eiweißstoffe im Blut. Dabei dienen die Proteine als sogenannte Biomarker. An den Untersuchungen waren auch das Universitätsklinikum Bonn (UKB) sowie weitere Forschungseinrichtungen in Deutschland und Spanien beteiligt.
FTD, ALS und PSP bilden ein Spektrum neurodegenerativer Erkrankungen mit überlappender Symptomatik, die durch Demenz, Verhaltensauffälligkeiten, Lähmungen und Schwund der Muskulatur, Bewegungsstörungen und andere schwerwiegende Beeinträchtigungen gekennzeichnet ist. Hierzulande sind schätzungsweise bis zu 60.000 Menschen von einer dieser Erkrankungen betroffen. Damit sind sie zwar relativ selten, ihre Folgen für die Gesundheit gleichwohl gravierend. „Keiner dieser Erkrankungen ist bislang heilbar. Und eine eindeutige Diagnose der molekularen Pathologie dieser Erkrankungen ist mit den bisherigen Methoden zu Lebzeiten gar nicht möglich, weil dafür Hirngewebe untersucht werden muss“, erläutert Prof. Anja Schneider, Forschungsgruppenleiterin am DZNE und Direktorin der Klinik für Alterspsychiatrie und Kognitive Störungen am UKB.
Diagnostische Marker
„Für die Entwicklung von Therapien bedarf es jedoch einer Diagnose der zugrundeliegenden Pathologie und der Möglichkeit, Patientinnen und Patienten nach der Art ihrer Erkrankung gruppieren zu können. Nur anhand einer solchen Stratifizierung können zielgerichtete und damit kausal wirksame Behandlungen getestet werden“, so Schneider weiter, die auch mit der Universität Bonn affiliiert ist. „Wir haben nun nachweisen können, dass sich eine PSP, die Verhaltensvariante der FTD sowie die überwiegende Mehrzahl der ALS-Erkrankungen mit der Ausnahme einer speziellen Mutation per Blut-Test erkennen lassen und auch ihre zugrundeliegende Pathologie. Unsere Studie ist die erste, die dafür geeignete Biomarker gefunden hat. Die Anwendung dürfte zunächst im Forschungsbereich und in der Therapie-Entwicklung liegen. Langfristig halte ich es aber für realistisch, dass diese Biomarker auch in der medizinischen Routineversorgung zur Diagnose genutzt werden. Hierzu sind aber weitere Studien erforderlich. Wichtig wäre es insbesondere, die Entwicklung dieser Biomarker im Krankheitsverlauf zu erfassen und zu ermitteln, wie frühzeitig sie ansprechen.“
Erfassung von Proteinen
Der neue Bluttest, der auf der Messung sogenannter Tau- und TDP-43-Proteine basiert, könnte entscheidende Indizien für eine Diagnose liefern. Besonders großer Bedarf besteht bei der hier untersuchten „verhaltensbedingten FTD“. Denn den Symptomen dieser häufigsten Variante der FTD können im Gehirn zwei verschiedene Pathologien – also abnorme Vorgänge – zugrunde liegen, die sich im Allgemeinen erst per Gewebeanalyse nach dem Tode unterscheiden lassen. Nur bei den wenigen Betroffenen, bei denen eine Erkrankung genetisch bedingt ist, kann eine Erbgutanalyse schon zu Lebzeiten Klarheit schaffen. Durch den Bluttest wird nun eine eindeutige Diagnose zu Lebzeiten selbst dann möglich, wenn keine Mutation vorliegt. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass neue Therapien gegen diese verschiedenen Pathologien von FTD in klinischen Studien überhaupt getestet werden können.
Abnorme Aggregate
„Man weiß schon länger, dass Tau- beziehungsweise TDP-43-Proteine bei FTD, ALS und PSP Schlüsselrollen spielen, denn im Zuge dieser Erkrankungen bilden sie im Gehirn abnorme Aggregate. Die Geschehnisse unterscheiden sich jedoch zwischen den Erkrankungen. Unsere Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Blut-Konzentrationen der Proteine diese Krankheitsprozesse widerspiegeln“, sagt Schneider. „Wir haben festgestellt, dass für die Diagnose von verhaltensbedingter FTD beziehungsweise deren Unterformen die Kombination beider Marker benötigt wird, für ALS hingegen reicht TDP-43 und für PSP das Tau-Protein. Wobei wir uns für den Tau-Marker genau genommen zwei spezielle Varianten des Tau-Proteins anschauen.“
Winzige Fettbläschen
Das Verfahren bedient sich eines besonderen Kniffs: Erfasst werden nämlich keine Proteine aus dem Blutplasma; diese Messwerte entpuppten sich als nicht aussagekräftig – insbesondere, weil Tau-Proteine, die im Blut frei herumtreiben, meist beschädigt sind. Stattdessen ermittelte das Team um Schneider die Konzentrationen von zwei verschiedenen Tau-Formen beziehungsweise von TDP-43-Proteinen, die in sogenannten Vesikeln enthalten waren. Dies sind winzige Fettbläschen, die von Körperzellen abgesondert werden und letztlich in den Blutstrom gelangen können. Durch mehrstufige Präparation, die unter anderem eine Zentrifugierung der Blutproben beinhaltete, konnten die Forschenden die in Vesikeln vorkommenden Eiweißstoffe erfassen.
Kooperative Forschung
Die Ergebnisse beruhen auf Daten und Blutproben von Studien-Kollektiven aus Deutschland und Spanien mit insgesamt 991 Erwachsenen. Sie waren von FTD, ALS oder PSP betroffen beziehungsweise gehörten zur Kontrollgruppe mit gesunden Personen. Diese Situation mit unabhängigen Probandengruppen ermöglichte eine umfangreiche Validierung der Befunde. Beteiligt waren einerseits die sogenannten DESCRIBE-Kohorten: Im Rahmen dieser Forschungsinitiativen erfasst das DZNE gemeinsam mit mehreren deutschen Universitätskliniken Daten und Bioproben von Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen. Dieses Ensemble umfasste mehr als 700 Patientinnen und Patienten. Von spanischer Seite kam die „Sant Pau“-Kohorte, die vom Hospital de la Santa Creu i Sant Pau in Barcelona betrieben wird, mit über 200 teilnehmenden Personen hinzu. „Bei diesen relativ seltenen Erkrankungen muss man standort- und institutsübergreifend arbeiten, um möglichst viele Probanden und damit statistisch belastbare Aussagen treffen zu können“, erläutert Schneider. “Solche Unternehmungen sind fester Bestandteil der Strategie des DZNE, wofür wir über Jahre hinweg Strukturen und Abläufe geschaffen haben. Das ist aufwendig, zahlt sich aber aus. Unsere Studie ist ein gutes Beispiel für Zusammenarbeit in der medizinischen Forschung – innerhalb Deutschlands und darüber hinaus.“
Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE): Das DZNE ist ein Forschungsinstitut für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Bis heute gibt es keine Heilung für diese Erkrankungen, die eine enorme Belastung für unzählige Betroffene, ihre Familien und das Gesundheitssystem bedeuten. Das DZNE hat zum Ziel, neuartige Strategien der Vorsorge, Diagnose, Versorgung und Behandlung zu entwickeln und in die Praxis zu überführen. Es hat bundesweit zehn Standorte und kooperiert mit zahlreichen Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen in Deutschland und weltweit. Das DZNE wird staatlich gefördert, es ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und der Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung.