Fahndung im Erbgut
Im Organismus von Mäusen und in Zellkulturen starteten die Wissenschaftler eine umfangreiche Suche nach Erbanlagen, die das Wachstum von Nervenzellen regulieren. „Das glich der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen. In einer Nervenzelle sind je nach Entwicklungsstadium hunderte von Genen aktiv. Der bioinformatische Aufwand war erheblich. Dafür haben wir eng mit Kollegen der Universität Bonn zusammengearbeitet“, so Bradke. „Letztlich konnten wir einen aussichtsreichen Kandidaten identifizieren. Das Gen mit der Bezeichnung Cacna2d2 spielt für die Ausbildung der Synapsen, also der Verschaltung der Nervenzellen, eine wichtige Rolle.“ In weiteren Untersuchungen veränderten die Forscher die Aktivität des Gens, indem sie es zum Beispiel ausschalteten. So konnten sie nachweisen, dass sich Cacna2d2 tatsächlich auf das Wachstum der Axone und die Regeneration von Nervenverbindungen auswirkte.
Pregabalin löste neuronales Wachstum aus
Cacna2d2 codiert den Bauplan eines Proteins, das Bestandteil eines größeren Molekülkomplexes ist. Das Protein verankert in der Zellmembran sogenannte Ionenkanäle, die den Einstrom von Kalzium-Teilchen in die Zelle regulieren. Da sich die Kalzium-Konzentration unter anderem auf die Freisetzung von Botenstoffen auswirkt, sind diese Kanäle essentiell für die zelluläre Kommunikation.
Für weitere Untersuchungen griffen die Forscher auf eine Substanz zurück, von der schon länger bekannt war, dass sie sich am molekularen Anker der Kalzium-Kanäle festsetzt. Über mehrere Wochen hinweg verabreichten sie Mäusen mit Rückenmarksverletzung den Wirkstoff Pregabalin (PGB). Wie sich herausstellte, ließ diese Behandlung neue Nervenverbindungen entstehen.
„Unsere Studie zeigt, dass die synaptische Verschaltung wie ein Schalter wirkt, der das axonale Wachstum abbremst. Dieser Effekt lässt sich mit einem verfügbaren Medikament beeinflussen“, sagt Bradke. Tatsächlich wird PGB schon jetzt bei Rückenmarksverletzungen eingesetzt. Allerdings als Schmerzmittel und erst relativ spät nachdem die Verletzung stattgefunden hat. „PGB könnte bei Patienten vielleicht einen regenerativen Effekt haben, verabreicht man es früh genug. Daraus könnte sich langfristig ein neuer Ansatz für die Therapie ergeben. Das lässt sich aber jetzt noch nicht einschätzen.“
Ein neuer Mechanismus?
In vorherigen Studien hatten die Bonner Forscher nachgewiesen, dass manche Krebsmedikamente verletzte Nervenverbindung ebenfalls regenerieren lassen. Hauptakteure sind dabei die Mikrotubuli, lange Proteinkomplexe, die den Zellkörper stabilisieren. Wenn sie wachsen, treiben auch die Axone aus. Wie hängen die verschiedenen Ergebnisse zusammen? „Wir wissen nicht, ob diese Mechanismen voneinander unabhängig sind oder ob sie ineinandergreifen“, sagt Bradke. „Das wollen wir uns künftig genauer anschauen.“
Originalveröffentlichung
The Calcium Channel Subunit Alpha2delta2 Suppresses Axon Regeneration in the Adult CNS.
Andrea Tedeschi, Sebastian Dupraz, Claudia J. Laskowski, Jia Xue, Thomas Ulas, Marc Beyer, Joachim L. Schultze, Frank Bradke.
Neuron. DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.neuron.2016.09.026