Digitaltechnik automatisiert Beurteilung des Schweregrades
Bonn, 18. April 2023. Forschende des DZNE und des Universitätsklinikums Bonn haben gemeinsam mit dem Berliner Unternehmen PeakProfiling GmbH ein computerassistiertes Verfahren entwickelt, das den Schweregrad von Sprechstörungen infolge der Hirnerkrankung Ataxie mit großer Genauigkeit erkennt. Sie berichten darüber im Fachjournal „npj digital medicine“. Die neue Methodik, die sich künstlicher Intelligenz behilft, könnte langfristig in der Wissenschaft sowie im klinischen Alltag zum Einsatz kommen.
Der Begriff „Ataxie“ beschreibt eine Gruppe seltener, neurodegenerativer Hirnerkrankungen, die sich unter anderem durch Gangunsicherheit, Schluck- und Sprechstörungen bemerkbar machen. „Die Aussprache wird undeutlich, der Sprachrhythmus unregelmäßig. Das Sprechtempo ist meist verlangsamt und schleppend, kann sich aber plötzlich beschleunigen. All dies beeinträchtigt die Fähigkeit zu kommunizieren“, erläutert Dr. Marcus Grobe-Einsler, Forscher am DZNE und Assistenzarzt in der Klinik und Poliklinik für Neurologie des Universitätsklinikums Bonn (UKB). „Für die Beurteilung der Schwere der Sprechstörungen gibt es ein etabliertes Klassifikationssystem mit sechs Stufen. Bislang geschieht diese Einteilung gewissermaßen von Hand durch klinische Fachleute. Das ist zeitlich aufwändig und in gewissem Maße subjektiv. Im Rahmen einer Machbarkeitsstudie haben wir nun zeigen können, dass es mittels Computertechnik möglich ist, die etablierte Klassifizierung zu automatisieren und zu objektivieren. Unser Ansatz könnte die Abläufe zur Bestimmung der Schwere einer Ataxie stark vereinfachen.“
Kooperation mit der Industrie
Das Forschungsteam um Grobe-Einsler kooperierte für diese Untersuchungen mit der PeakProfiling GmbH. Das Berliner Unternehmen ist auf die Analyse von Stimmen und Geräuschen spezialisiert. Für die aktuelle Studie wurden Sprachaufzeichnungen von 67 Patientinnen und Patienten mit überwiegend leichter oder mittelschwerer Ataxie verwertet. Die Äußerungen der Probanden waren Antworten auf standardisierte Fragen: Die Versuchsteilnehmenden sollten beispielsweise von ihren Hobbies erzählen und laut von 1 bis 10 und wieder zurück zählen. Mit Hilfe spezieller Software zur Klanganalyse und Algorithmen des „Maschinellen Lernens“ – eine Spielart der künstlichen Intelligenz –, konnten die Forschenden unter anderem im Sprachrhythmus der Probanden und in Schwankungen ihrer Lautstärke mehr als einhundert charakteristische Merkmale identifizieren.
Hohe Trefferquote
Anhand dieser Parameter wurde in einem nächsten Schritt das digitale Analyse-System so getrimmt, dass der per Computer errechnete Schweregrad bestmöglich mit dem Urteil eines dreiköpfigen Fachgremiums übereinstimmte, das die Sprachproben begutachtet hatte. Das Votum der Expertinnen und Experten galt als Referenz. Letztlich erreichte der computergestützte Ansatz bei einer Stichprobe von Aufnahmen, die vom Optimierungsprozess der Software ausgeschlossen worden und somit unabhängig von diesem war, eine Trefferquote von 80 Prozent.
Mögliche Anwendungen
„Wir möchten unser Verfahren nun in größeren Studien weiter verfeinern und in internationaler Kooperation vom Deutschen auf weitere Sprachen übertragen“, sagt Prof. Thomas Klockgether, Direktor der Klinischen Forschung des DZNE und zugleich Leiter der Klinik und Poliklinik für Neurologie des UKB. Der Grad der Sprechstörung sei ein wichtiges Kriterium, um den Gesundheitszustand eines Menschen mit Ataxie einzuschätzen, erläutert der Neurologe. Ein Verfahren, das diese Beurteilung objektiviert und automatisiert, hätte daher großes Potenzial sowohl für die Forschung als auch für die klinische Praxis. „Unsere Methode könnte bei der Kontrolle des Krankheitsverlaufs helfen, außerdem lässt sie sich aufgrund ihres Automatisierungsgrads in Studien mit vielen Probanden effizient einsetzen. Das ist sehr wertvoll insbesondere im Kontext von Arzneimittelstudien. Jüngst ist da im Bereich der Ataxie viel in Bewegung geraten, denn es gibt neue, bislang allerdings noch experimentelle Therapieansätze.“
Zudem sei es denkbar, entsprechende Software in eine Smartphone-App zu integrieren. „Bei Ataxie gibt es häufig Schwankungen im Gesundheitszustand, die sich durch Klinikbesuche nur sporadisch abbilden lassen. Per Smartphone und Digitaltechnik ginge das viel engmaschiger – und die Software könnte den Betroffenen auch Rückmeldung geben über die Wirkung von Logopädie oder anderen Behandlungsmaßnahmen auf ihr Sprechvermögen. Viele Patientinnen und Patienten wünschen sich solch direktes Feedback“, so Klockgether.