Neue Erkenntnisse über subjektive Beeinträchtigungen der geistigen Leistungsfähigkeit
Köln, 12. Mai 2022. Subjektive Gedächtnisstörungen in Verbindung mit auffälligen Werten des Eiweißstoffes Beta-Amyloid im Nervenwasser sind ein starkes Indiz für eine sich entwickelnde Alzheimer-Erkrankung. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des DZNE mit rund 1.000 älteren Erwachsenen. Ein Team um den Kölner Demenzforscher Frank Jessen berichtet darüber im Fachjournal „Alzheimer’s & Dementia“. Die Studienergebnisse könnten zur frühzeitigen Erkennung und Behandlung der Alzheimer-Erkrankung beitragen.
Wenn das Gedächtnis oder andere geistige Fähigkeiten nach eigenem Gefühl nachlassen, objektive Testverfahren allerdings keine Minderung feststellen, spricht man in der Medizin von „subjektiven kognitiven Beeinträchtigung“, kurz SCD – nach dem englischen Fachausdruck „Subjective Cognitive Decline“. Das Phänomen wird seit einigen Jahren erforscht. „Die Betroffenen berichten über kognitive Probleme, die sie ernsthaft beunruhigen, die mit den heutigen Verfahren allerdings nicht messbar sind“, erläutert Prof. Frank Jessen, Wissenschaftler am DZNE und Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Köln. Inzwischen hat sich herausgestellt: SCD ist ein Risikofaktor, allerdings kein eindeutiges Warnsignal für eine spätere Demenz. „Bei vielen Menschen mit SCD kommt es zu keinem fortschreitenden Verlust der kognitiven Leistung. Um das individuelle Risiko genauer bewerten zu können, sind weitere Faktoren zu berücksichtigen“, so der Forscher. „Wir haben diese nun präzisieren können. Gibt es zusätzlich zu SCD auch Belege dafür, dass sich im Gehirn bestimmte Eiweißstoffe ansammeln, dann ist das zusammengenommen ein starkes Verdachtsmoment für eine sich entwickelnde Alzheimer-Erkrankung.“
Bundesweite Studie
Diese Einschätzung stützt sich auf eine Langzeitstudie des DZNE namens DELCODE, die bundesweit zehn Studienzentren umfasst und an der mehrere Universitätskliniken mitwirken. In diesem Rahmen wird seit einigen Jahren die kognitive Leistungsfähigkeit von fast 1.000 älteren Frauen und Männern jährlich erfasst. Dies geschieht mittels etablierter neuropsychologischer Testverfahren. Von vielen Studienteilnehmenden wird zusätzlich der Liquor – auch „Nervenwasser“ genannt – analysiert und mittels Magnetresonanztomografie (MRT) das Hirnvolumen vermessen.
Jessen und seine Kolleginnen und Kollegen werteten nun Messreihen der einzelnen Probanden aus, wobei die Datensätze jeweils einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren umfassten. Die Studienteilnehmenden waren im Mittel rund 70 Jahre alt, sie wurden ursprünglich über die Gedächtnisambulanzen der teilnehmenden Universitätskliniken und über Zeitungsannoncen rekrutiert. Die Kohorte umfasste mehr als 400 Personen mit SCD zu Studienbeginn und etwa 300 Personen mit messbaren kognitiven Beeinträchtigungen – bis hin zu Symptomen einer Demenz aufgrund einer Alzheimer-Erkrankung. Zur Kohorte gehörten außerdem mehr als 200 Erwachsene, deren kognitive Leistung im normalen Bereich lag und die zu Beginn der Studie keine SCD aufwiesen: Diese „gesunden“ Personen dienten als Kontrollgruppe. Alles in allem handelt es sich um eine der bislang umfangreichsten Studien über SCD.
Biomarker im Nervenwasser
Eine wichtige Rolle für die Untersuchungen spielte der Eiweißstoff Beta-Amyloid, der sich im Zuge einer Alzheimer-Erkrankung im Gehirn ansammelt. Das lässt sich indirekt feststellen – anhand der Konzentration des Proteins im Nervenwasser: Liegt der Messspiegel jenseits eines Schwellenwertes, wird dies als Beleg dafür gesehen, dass sich Beta-Amyloid im Gehirn anreichert. Diese Personen gelten dann als „Amyloid-positiv“. 83 Probanden mit SCD und 25 Personen aus der Kontrollgruppe hatten diesen Status. „Die Ablagerung von Beta-Amyloid ist ebenso wie SCD ein Risikofaktor für Alzheimer. Für sich betrachtet sind beide Phänomene allerdings kein eindeutiger Indikator für eine Erkrankung. Doch das Bild schärft sich, das belegt unsere Studie, wenn man diese Phänomene zusammen und über längere Dauer betrachtet“, so Jessen.
Zeitliche Entwicklung
Während des Studienzeitraums entwickelten einige Probanden aus der SCD-Gruppe und auch einige aus der Kontrollgruppe messbare kognitive Defizite. Besonders deutlich war diese Entwicklung bei Amyloid-positiven Personen mit anfänglicher SCD. Im Vergleich dazu war der kognitive Abbau bei den Amyloid-positiven Probanden der Kontrollgruppe im Durchschnitt gesehen weitaus geringer. Unterschiede zeigten auch die MRT-Daten des Gehirns: Der sogenannte Hippocampus, der sich über beide Hirnhälften verteilt und als „Schaltzentrale“ des Gedächtnisses gilt, war bei Amyloid-positiven Personen mit SCD im Allgemeinen kleiner als bei den Amyloid-positiven Probanden der Kontrollgruppe: Ein Hinweis für Atrophie, also für den Verlust von Hirnmasse.
Stufe 2 der Alzheimer-Erkrankung
„Zählt man alle Befunde zusammen, inklusive der Daten jener Probanden, die bereits zu Studienbeginn messbare kognitive Defizite aufwiesen, dann sehen wir die Kombination von SCD und Amyloid-positiv-Status als starken Indikator für eine Alzheimer-Erkrankung im Frühstadium“, so Jessen. „Wenn man Alzheimer nach gängiger Vorgehensweise in sechs Stadien einteilt, wobei Stufe 6 eine schwerwiegende Demenz darstellt, dann entspricht die Kombination von SCD und Amyloid-positiv-Status nach unserer Einschätzung der Stufe 2. Diese liegt vor dem Zustand, bei dem erstmals messbare Symptome auftreten und der auch mild cognitive impairment genannt wird.“
Ansatz für die Früherkennung
Bislang gibt es keine effektive Behandlung von Alzheimer. Allgemein wird allerdings davon ausgegangen, dass eine Therapie frühestmöglich einsetzen sollte. „Gibt es messbare klinische Symptome, ist das Gehirn schon erheblich geschädigt. Aus heutiger Sicht hat eine Behandlung dann wenig Aussicht auf nachhaltigen Erfolg“, so Jessen. „Die Frage ist daher, wie man scheinbar gesunde Personen identifizieren kann, die aber tatsächlich an Alzheimer erkrankt sind und mit großer Wahrscheinlichkeit eine Demenz entwickeln werden. Die Kombination von SCD und Amyloid-positiv-Status halte ich für ein vielversprechendes Kriterium, das man in künftigen Studien weiter untersuchen und überprüfen sollte.“