Der Impfstoff zielt auf die häufigste genetisch bedingte ALS-Variante ab
Bilthoven, Niederlande / München, 6. Juli 2022. Das DZNE und Intravacc B.V., ein weltweit führendes Auftragsunternehmen für die Entwicklung und Herstellung von präventiven und therapeutischen Impfstoffen, haben von der Europäischen Union eine Finanzierung in Höhe von 2,5 Millionen Euro (EIC Transition Grant) für die Weiterentwicklung eines Prototyps eines Impfstoffs gegen die Nervenerkrankung Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) erhalten. Ziel des Projekts ist es, den am DZNE identifizierten Impfstoffkandidaten so weit zu entwickeln, dass er am Menschen klinisch getestet werden kann.
ALS ist eine tödlich verlaufende neurodegenerative Erkrankung, die durch die Ablagerung von Proteinen in den Motoneuronen des Gehirns und Rückenmarks ausgelöst wird und zu rasch fortschreitenden Lähmungen und schließlich zum Tod führt. Genmutationen wurden als Auslöser für einige Formen der Erkrankung identifiziert. Etwa 5 bis 10 Prozent aller ALS-Fälle werden durch eine Mutation im sogenannten C9orf72-Gen verursacht und sind damit die häufigste genetisch bedingte ALS-Variante. Betroffene haben im Unterschied zu den meisten Menschen in einem normalerweise stummen Teil dieses Gens eine große Anzahl sich wiederholender DNA-Bausteine. Die Forschungsgruppe von Prof. Dr. Dieter Edbauer am DZNE entdeckte jedoch, dass diese zusätzlichen Sequenzen in toxische Proteine übersetzt werden – vor allem in große, kettenartige Moleküle namens „Poly-Glycin-Alanin“ (poly-GA): Sie lösen in transgenen Mäusen ein Krankheitsbild ähnlich zur ALS aus, das letztlich zum Absterben von Nervenzellen führt.
Ein experimenteller Impfstoff
Das DZNE hat einen experimentellen Impfstoff entwickelt, der das Immunsystem dazu anregt, Antikörper gegen diese schädlichen Poly-GA-Moleküle zu bilden. Im sogenannten Mausmodell werden dadurch Poly-GA-Aggregate reduziert und motorische Defizite weitgehend verhindert. Zur Aufrechterhaltung ausreichender Antikörperspiegel muss der Impfstoff regelmäßig verabreicht werden.
Beim Menschen sind allein in den USA und in Europa mehr als 2.500 Fälle der C9orf72-Variante von ALS erfasst. Schätzungsweise 9.000 Mutationsträger, die derzeit keine Symptome zeigen, bei denen aber das Risiko besteht, innerhalb von 10 Jahren zu erkranken, könnten ebenfalls von diesem Ansatz profitieren. Ähnliche Impfstoffkonzepte könnten vielleicht sogar Menschen helfen, die eine eng verwandte Krankheit, die Frontotemporale Demenz, entwickeln.
„Bevor wir diesen Ansatz bei Menschen mit ALS testen können, müssen wir die Herstellung unseres Impfstoffs in klinischer Qualität etablieren und in weiteren Studien die Sicherheit unseres Ansatzes belegen. Wir sind dankbar, dass die EU diese Entwicklung mit dem EIC Transition Grant unterstützt. Alles in allem hoffen wir, dass die Ergebnisse dieses gemeinsamen Projekts mit Hilfe von Intravacc die breite Anwendung von Impfstoffen bei schwächenden neurodegenerativen Erkrankungen voranbringen werden“, so Prof. Dr. Dieter Edbauer, Forschungsgruppenleiter am DZNE-Standort München.
„Wir brauchen dringend wirksame Therapien zur Behandlung von ALS-Patienten, die die ursächlichen Krankheitsprozesse direkt beeinflussen. Das Ziel unseres aktuellen Projekts ist es, den Impfstoff so weit zu entwickeln, dass er am Menschen getestet werden kann. Klinische Versuche für die C9orf72-ALS als häufigste genetische Variante der ALS sollen voraussichtlich im Jahr 2025 beginnen. Unsere Erfahrung in der Entwicklung ähnlicher Konjugatimpfstoffe für Infektionskrankheiten wird die präklinische Entwicklung erheblich beschleunigen und den Start der ersten klinischen ALS-Impfstudie beim Menschen unterstützen,“ so Dr. Jan Groen, CEO von Intravacc.
Über die ALS
Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), die häufigste Motoneuronen-Erkrankung, ist eine fortschreitende neurodegenerative Erkrankung der Motoneuronen im Gehirn und Rückenmark, die zu fortschreitenden Lähmungen führt und in der Regel innerhalb von 2 bis 5 Jahren nach der Diagnose zum Tod führt. ALS tritt typischerweise bei Menschen im Alter zwischen 40 und 70 Jahren auf, wobei Männer etwas häufiger betroffen sind als Frauen. Bis heute gibt es keine Heilung für ALS. Die derzeitigen Therapien können nur die Symptome lindern, aber den Verlust von Nervenzellen und das Fortschreiten der Krankheit nicht aufhalten. Die ALS ist eine seltene Krankheit mit multifaktorieller Genese, und der genaue Entstehungsmechanismus ist noch unbekannt. Bei den meisten Patienten (85 bis 90 Prozent) ist die Ursache der ALS unbekannt. Diese Situation wird als „sporadische ALS“ bezeichnet. 10 bis 15 Prozent der ALS-Fälle haben genetische Ursachen. Genetische Varianten der ALS, die durch bekannte Mutationen wie die sogenannte C9orf72-Repeat-Expansion ausgelöst werden, bieten eine einzigartige Chance für eine gezielte Behandlung.