Bonn, 31. Oktober 2019. Während der Embryonalentwicklung bilden Nervenzellen lange Fortsätze, mit denen sie sich zu einem komplexen Netzwerk im Gehirn verbinden. Wissenschaftler vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn haben nun ein Protein identifiziert, welches das Wachstum dieser Fortsätze reguliert und dabei gewissermaßen auf die Bremse tritt. Ihre Erkenntnisse könnten langfristig dazu beitragen, neue Ansätze zur Behandlung von Rückenmarksverletzungen zu entwickeln. Die Studie ist in der Zeitschrift „Current Biology“ publiziert.
Neurone leiten elektrische Signale in eine klar definierte Richtung weiter - man sagt, sie sind „polarisiert“. Jedes Neuron empfängt Signale und leitet diese über einen langen Fortsatz, dem sogenannten Axon, an die nächste Zelle weiter. Bei Menschen können Axone, vor allem im Rückenmark, über einen Meter lang werden. Lassen sich diese enormen Wachstumsfähigkeiten nach Verletzungen des Rückenmarks wieder anregen? „Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die molekularen Prozesse der Embryonalentwicklung erstmal besser verstehen“ sagt Prof. Frank Bradke, Arbeitsgruppenleiter am Bonner Standort des DZNE und Leiter der aktuellen Studie. Diesem Ziel sind er und sein Team nun einen Schritt nähergekommen, indem sie bei Mäusen und in Zellkulturen den Wachstumsprozess von Nervenzellen untersuchten.
Ein vielfältiges Protein
Im Zentrum der aktuellen Studie steht ein Protein namens RhoA, ein Tausendsassa unter den Molekülen. RhoA interagiert mit vielen Proteinen und hat in verschiedenen Zellen ganz unterschiedliche Funktionen. Welche Funktion es in Nervenzellen ausübt, wurde jedoch bisher noch nicht genau untersucht. „Lange Zeit dachte man, RhoA würde die Polarität des Neurons bestimmen und damit festlegen, wo an der Zelle das Axon gebildet wird“, erklärt Bradke. Die aktuelle Studie zeigt, dass dem nicht so ist: RhoA hat mit der Polarität von Nervenzellen und der Entstehung des Axons wenig zu tun. Erst nachdem das Axon schon vorhanden ist, regelt RhoA über eine molekulare Kaskade das Wachstum. Diese Erkenntnis könnte für neue Therapien von Bedeutung sein. „Eine Manipulation des RhoA-Signalwegs sollte demnach nur das Wachstum der Nervenfasern beeinflussen, ohne dabei den Aufbau der Zelle durcheinander zu bringen“, sagt Bradke.
Molekulare Wachstumsbremse
Wie jede andere Zelle haben auch Neurone eine Art Skelett, das der Zelle seine Struktur gibt. RhoA, so zeigten Bradke und seine Kollegen, aktiviert einen molekularen Signalweg, der direkt auf das Zellskelett einwirkt. Es drosselt das axonale Wachstum, indem es sogenannte Mikrotubuli, die für die Stabilisierung des Axons notwendig sind, aus der Wachstumszone des Axons verdrängt. „In der Embryonalentwicklung ist eine solche Wachstumsbremse vermutlich nötig, um verschiedene Entwicklungsprozesse genau aufeinander abzustimmen. Ein genaues Verständnis dieser Vorgänge könnte helfen, gezielt die Regeneration nach Rückenmarksverletzungen anzuregen. Hierfür müsste man diese Wachstumsbremse gewissermaßen lösen können“, sagt Dr. Sebastian Dupraz, der führende Autor der aktuellen Studie und Postdoc in Bradkes Arbeitsgruppe. „Die molekulare Kaskade, die wir entschlüsselt haben, beeinflusst direkt das Zellskelett des Axons bietet daher einen guten Ansatzpunkt für therapeutische Strategien.“
In einer früheren Studie hatte Bradkes Team festgestellt, dass eine Gruppe von Proteinen – die „Cofilin/ADF“-Familie – für das Wachstum des Axons ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Letztendlich wirken sowohl RhoA als auch die Cofilin/ADF-Proteine auf das Zytoskelett des Axons, wenn auch über unterschiedliche Mechanismen. Beide Wege könnten potenzielle Ansatzpunkte für zukünftige Therapien sein.