Die „Spinozerebellären Ataxien“ umfassen eine Reihe genetisch bedingter Erkrankungen des Kleinhirns und anderer Hirnbereiche. Die Betroffenen können ihre Bewegungen nur eingeschränkt kontrollieren. Außerdem leiden sie unter Störungen des Gleichgewichts und Sprechvermögens. Ursache dafür sind Veränderungen des Erbguts. Sie bewirken, dass Nervenzellen geschädigt werden und absterben. Diese Gendefekte sind vergleichsweise selten: Schätzungen gehen davon aus, dass hierzulande rund 3.000 Menschen betroffen sind.
Mittlerweile sind diverse Unterarten dieser neurodegenerativen Erkrankungen bekannt. Dementsprechend schwankt das Alter, in dem Symptome auftreten, ungefähr zwischen dem 30. und dem 50. Lebensjahr. „Uns ging es darum festzustellen, ob bereits vor dem offensichtlichen Ausbruch spezifische Anzeichen einer Erkrankung erkennbar sind“, sagt Studienleiter Prof. Thomas Klockgether, Direktor für Klinische Forschung des DZNE und Direktor der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Bonn.
Europaweite Kooperation
Der Fokus der Studie, an der sich insgesamt 14 Forschungszentren beteiligten, war auf die vier häufigsten Varianten der spinozerebellären Ataxie gerichtet. Diese machen mehr als die Hälfte aller Krankheitsfälle aus. Europaweit erklärten sich mehr als 250 Geschwister und Nachkommen von Patienten bereit, an entsprechenden Tests teilzunehmen. Die Probanden zeigten keine offensichtlichen Ataxie-Symptome. Rund die Hälfte hatte allerdings jene Genfehler geerbt, die langfristig unweigerlich zu einer Erkrankung führen.
Mithilfe eines mathematischen Modells der Gendefekte und deren Wirkung war es den Wissenschaftlern möglich, den Zeitraum bis zum voraussichtlichen Ausbruch einer Erkrankung abzuschätzen. Innerhalb der Probandengruppe variierte diese Spanne zwischen 2 und 24 Jahren. Diese, und auch alle weiteren Untersuchungsergebnisse, blieben anonym: Solche Daten wurden weder den Probanden bekannt, noch konnten die Forscher sie einzelnen Studienteilnehmern zuordnen. Das galt auch für jene Personen, deren Erbgut sich als unauffällig herausstellte. „Die Menschen aus Familien, in denen eine Ataxie vorkommt, haben üblicherweise keinen Gentest gemacht und sie möchten etwaige Ergebnisse auch nicht wissen. Aus ethischen Gründen muss man daher sehr sorgsam mit solchen Informationen umgehen“, betont Klockgether.
Umfangreiche Tests
Die Studienteilnehmer stellten sich für diverse Untersuchungen zur Verfügung, darunter waren standardisierte Tests der Bewegungskoordination. Unter anderem wurde die Zeit gestoppt, die die Probanden benötigten, um eine gewisse Strecke gehend zurückzulegen. Bei einer anderen Versuchsreihe ging es darum, kleine Stifte schnellstmöglich in die Löcher eines Steckbrettes zu setzen und wieder herauszunehmen. Auch wurde gemessen, wie oft die Probanden eine bestimmte Silbenfolge innerhalb von zehn Sekunden wiederholen konnten. „Die Verfahren sind so ausgelegt, dass sie aussagekräftig und dennoch einfach durchzuführen sind“, so Klockgether. „Solche Tests kann man überall umsetzen, ohne auf besondere Technik angewiesen zu sein.“
Technisch aufwändige Methoden kamen ebenfalls zur Anwendung: Alle Studienteilnehmer wurden auf die für Ataxien relevanten Gendefekte getestet. An einigen der an der Studie beteiligten Forschungszentren bestand zudem die Möglichkeit für Untersuchungen mit Hilfe der Magnetresonanz-Tomographie (MRT). Bei rund einem Drittel der Probanden konnten auf diese Weise das Volumen des Gesamtgehirns sowie die Ausmaße einzelner Hirnbereiche vermessen werden.
Auffällige Befunde
Bei zweien der vier untersuchten Ataxie-Formen stießen die Wissenschaftler auf Vorzeichen einer bevorstehenden Erkrankung. „Wir haben einerseits einen Verlust an Hirnmasse festgestellt, insbesondere Schrumpfungen im Bereich des Kleinhirns und Hirnstamms, außerdem subtile Störungen der Koordination“, fasst Klockgether die Ergebnisse zusammen. „Solche Entwicklungen sind also schon Jahre vor dem voraussichtlichen Ausbruch der Erkrankung messbar.“
Weniger aussagekräftig waren die Befunde bei den beiden anderen Ataxie-Formen. „Ich würde davon ausgehen, dass es auch für diese Krankheitstypen Vorboten gibt. Die Untergruppe dieser Studienteilnehmer war allerdings relativ klein. Statistisch gesicherte Aussagen über diese Probanden sind deshalb schwierig“, sagt der Bonner Forscher.
Nach seiner Einschätzung sind die Studienergebnisse ein Beleg für das heutige Bild neurodegenerativer Vorgänge: „Neurodegeneration beginnt nicht erst dann, wenn die Symptome auftreten. Es ist vielmehr eine schleichende Krankheit, die sich schon Jahre oder gar Jahrzehnte vorher entwickelt.“
Diese allmähliche Entwicklung biete Chancen, meint Klockgether: „Würde man mit geeigneten Therapien früh genug in diesen Verlauf eingreifen, dann besteht die Möglichkeit, den Krankheitsprozess zu verlangsamen oder gar zu stoppen.“
Weitere Untersuchungen vorgesehen
Die aktuellen Ergebnisse schaffen die Grundlage für eine langfristige Untersuchung. Eine neue Testreihe mit der gleichen Personengruppe ist bereits angelaufen, weitere Untersuchungen sollen im Zwei-Jahres-Rhythmus folgen. Ziel der Wissenschaftler ist es, die Probanden über einen möglichst langen Zeitraum zu begleiten.
Originalveröffentlichung
Biological and clinical characteristics of individuals at risk for spinocerebellar ataxia types 1, 2, 3, and 6 in the longitudinal RISCA study: analysis of baseline data.
Heike Jacobi, Kathrin Reetz u. a., The Lancet Neurology, Online-Veröffentlichung am 22. Mai 2013, doi:10.1016/S1474-4422(13)70104-2
Abstract