Bonn, 6. September 2012. Bei jeder Aktivität im Gehirn werden Signale von einer zur nächsten Nervenzelle weitergegeben. Dabei prasseln oft bis zu tausend auf eine einzelne Zelle ein. Damit daraus ein präzises Signal entsteht, besitzt das Gehirn ein ausgeklügeltes Hemmsystem. Wissenschaftler um Prof. Dr. Stefan Remy vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen und der Universität Bonn zeigen jetzt wie das funktioniert. „Das System wirkt wie ein Filter, der nur die wichtigsten Impulse durchlässt“, so Remy. „Das bringt gezielte neuronale Muster hervor, die für die Speicherung im Langzeitgedächtnis unerlässlich sind.“
Filter im Gehirn sorgt für klare Ansagen
Wie funktioniert dieses Kontrollsystem genau? Wie können hemmende Signale die Aktivität einer Nervenzelle regulieren? Diese Frage stellten sich Stefan Remy und Kollegen. Bekannt ist, dass das System sehr wichtig bei Lernvorgängen ist. So zeigen neueste Erkenntnisse, dass es beispielsweise bei der Alzheimererkrankung gestört ist. Die Wissenschaftler untersuchten Nervenzellen des Hippocampus. Das ist eine Gehirnregion, die eine entscheidende Rolle bei der Gedächtnisbildung spielt.
Ob beim Lernen oder Erinnern – Informationen werden im Gehirn durch Nervenimpulse verarbeitet. Eingehende Signale gehen als erregende Signale in die Nervenzelle ein. Dort werden sie in verästelten Zellfortsätzen, den Dendriten verarbeitet, und selektiv an nachgeschaltete Zellen weitergeleitet. Dabei dienen die Dendriten als effiziente Verstärker hoch präziser Signale.
„Wir konnten zeigen, dass in ganz bestimmten Dendriten, den „starken Dendriten“, eingehende Signale besonders gut verstärkt werden. An „schwachen“ Dendriten ist eine Weiterleitung nur in ganz bestimmten Phasen möglich“, sagt Dr. Christina Müller, Post-Doktorandin in der Arbeitsgruppe von Stefan Remy und Erstautorin der Studie. Die Zellfortsätze sind unterschiedlich stark erregbar. „Starke“ Dendriten leiten vor allem synchrone erregende Signale sehr präzise und verlässlich weiter. Dabei können sie sich jeglicher Hemmung entziehen. Sie stellen so sicher, dass bestimmte, möglicherweise für Lernen und Gedächtnis besonders relevante Signale, zuverlässig weitergeleitet werden. Daraus ergeben sich definierte Aktivitätsmuster, die regelmäßig wiederholt werden. Das kann zu gleichzeitiger Erregung und damit zu einer Verknüpfung bestimmter Zellgruppen führen.
„Man nimmt an, dass diese gemeinsame neuronale Aktivität ein zelluläres Korrelat für Lernvorgänge ist“, so Müller. Denn zur Speicherung von Gedächtnisinhalten ins Langzeitgedächtnis müssen bestimmte Zellgruppen sehr präzise und wiederholt in der gleichen Abfolge aktiviert werden. Diese Aktivitätsmuster werden durch das Hemmsystem ermöglicht. Dies kann erklären, warum der Ausfall des Systems bei der Alzheimer-Erkrankung dramatische Folgen hat. Demnach wäre die Überführung von Inhalten in das Langzeitgedächtnis gestört.
Signale, die die Nervenzelle über „schwache“ Dendriten empfängt, können nur in Phasen schwacher Hemmung weitergegeben werden. Dabei können sie sich verändern und zu „starken“ Dendriten werden. Remy und Kollegen zeigen, dass sie dann ebenfalls zur präzisen Signalübertragung beitragen können. „Intrinsische Plastizität“ nennen die Wissenschaftler das. „Das macht Sinn. Denn auf diese Art können Zellgruppen gekoppelt und diese Kopplung permanent gemacht werden“, erklärt Remy. „Dies ist ein ganz neuer Lernmechanismus. Die Veränderung findet aber nicht wie bisher bekannt an der Synapse, sondern im Dendriten statt.“ Der Mechanismus könnte vor allem in besonderen Aktivitätsphasen stattfinden, zum Beispiel, wenn wir Neues erleben.
Mit ihren Ergebnissen leisten Remy und Kollegen einen wichtigen Baustein zum besseren Verständnis von Lernen und Gedächtnis.
Originalveröffentlichung:
Christina Müller, Heinz Beck, Douglas Coulter & Stefan Remy. Inhibitory control of linear and supralinear dendritic excitation in CA1 pyramidal neurons. Neuron, online publiziert am 5.9.2012. doi: 10.1016/j.neuron.2012.06.025