Synthetische Verbindung könnte Prototyp für neue Wirkstoffklasse zur Behandlung neurologischer Schäden sein
Magdeburg, 27. August 2020. Forschende des DZNE haben gemeinsam mit Fachleuten aus Großbritannien und Japan einen neurologisch wirksamen Eiweißstoff entwickelt und in Laborstudien getestet. Bei Mäusen linderte das künstliche Protein die Symptome bestimmter neurologischer Verletzungen und Erkrankungen; auf mikroskopischer Ebene konnte es Verbindungen zwischen Nervenzellen herstellen und reparieren. Diese Machbarkeitsstudie deutet darauf hin, dass Biopharmaka, die auf Nervenverbindungen wirken, langfristig gesehen von klinischem Nutzen sein könnten. Die Forschungsergebnisse sind in der Fachzeitschrift „Science“ veröffentlicht.
Das neuronale Netzwerk des menschlichen Gehirns verändert sich ein Leben lang, um Informationen aufzunehmen und in geeigneter Weise abspeichern zu können. Das gilt insbesondere für die Entstehung und den Abruf von Erinnerungen. Für die Anpassungsfähigkeit des Gehirns spielen die sogenannten Synapsen eine zentrale Rolle. Es sind Kontaktstellen, über die Nervensignale von einer Zelle zur nächsten gelangen. Eine Reihe spezieller Eiweißstoffe – im Fachjargon „synaptic organizing proteins“ genannt – sorgt dafür, dass Synapsen nach Bedarf gebildet und rekonfiguriert werden.
Künstlicher Eiweißstoff
Ein internationales Forschungsteam hat nun verschiedene Strukturelemente solcher natürlich vorkommenden Eiweißmoleküle zu einem künstlichen Protein namens CPTX kombiniert und dessen Wirkung in verschiedenen „Krankheitsmodellen“ getestet. Dazu wurde der Wirkstoff an Mäuse mit neurologischen Beeinträchtigungen verabreicht, die in ähnlicher Weise beim Menschen auftreten. Konkret ging es um die Alzheimer-Erkrankung, Rückenmarksverletzungen und zerebelläre Ataxie – eine Erkrankung, die vor allem durch eine Störung der Muskelkoordination gekennzeichnet ist. Alle diese Zustände gehen einher mit Schäden an den Synapsen oder deren Verlust. Fachleute mehrerer Forschungseinrichtungen arbeiteten dabei eng zusammen: darunter der DZNE-Standort Magdeburg, das MRC Laboratory of Molecular Biology in Großbritannien, die Keio University School of Medicine in Tokio sowie ebenfalls in Japan die Aichi Medical University.
Linderung von Krankheitssymptomen
„In unserem Labor haben wir die Wirkung von CPTX auf Mäuse untersucht, die bestimmte Symptome der Alzheimer-Erkrankung aufwiesen“, sagt Prof. Alexander Dityatev, Forschungsgruppenleiter am DZNE, der sich seit vielen Jahren mit synaptischen Proteinen befasst. „Wir haben festgestellt, dass CPTX das Erinnerungsvermögen der Mäuse verbesserte.“ Die Forschenden beobachteten außerdem eine Normalisierung verschiedener wichtiger neuronaler Faktoren, die bei der Alzheimer-Erkrankung sowie im untersuchten Tiermodell beeinträchtigt sind: Konkret erhöhte CPTX die Fähigkeit von Synapsen, sich zu verändern. Dies wird als ein zellulärer Vorgang angesehen, der mit der Gedächtnisbildung zusammenhängt. Darüber hinaus zeigte sich, dass CPTX die „exzitatorische Übertragung“ steigerte. Das bedeutet, dass das Protein spezifisch auf Synapsen wirkte, welche die Aktivität der kontaktierten Zellen förderten. Und schließlich erhöhte CPTX die Dichte „dendritischer Dornen“. Dieser Begriff bezeichnet winzige Ausbuchtungen in der Zellmembran, die für die Herstellung exzitatorischer synaptischer Verbindungen unerlässlich sind.
Weitere Untersuchungen der Studienpartner in Großbritannien und Japan ergaben, dass CPTX bei Mäusen mit motorischen Störungen – ausgelöst entweder durch Rückenmarksverletzungen oder Krankheitszustände, die einer zerebellären Ataxie ähnlich sind – die Mobilität verbesserte. Und auf zellulärer Ebene zeigte sich, dass der Wirkstoff exzitatorische synaptische Verbindungen reparierte und förderte.
Molekularer Verbinder
CPTX kombiniert auf einzigartige Weise funktionelle Domänen, die in natürlichen synaptischen Proteinen vorkommen. Der Wirkstoff wurde so konzipiert, dass er als universeller Brückenbildner für exzitatorische Verbindungen zwischen Nervenzellen fungiert. Wo zwei Nervenzellen aufeinandertreffen, entweder „adhäsiv“ – quasi aneinanderklebend – oder tatsächlich in synaptischem Kontakt, verbindet sich CPTX mit spezifischen Molekülen auf den Oberflächen der beiden beteiligten Zellen und löst dadurch entweder die Bildung neuer Synapsen aus oder verstärkt schon bestehende.
„Derzeit ist der Wirkstoff experimentell und seine Synthese, der Verdienst dafür gebührt unseren britischen Partnern, ist ziemlich anspruchsvoll. Von einer Anwendung beim Menschen sind wir weit entfernt“, betont Dityatev, der neben seiner Forschung am DZNE auch Mitglied der Medizinischen Fakultät der Universität Magdeburg ist. „Unsere Studie legt jedoch nahe, dass CPTX beim Aufbau und der Verstärkung von Nervenverbindungen sogar besser als einige seiner natürlichen Pendants wirken kann. Somit könnte CPTX den Prototyp für eine neue Klasse von Wirkstoffen mit klinischem Potenzial darstellen.“ Die Anwendung läge demnach bei Erkrankungen, die mit einer gestörten neuronalen Vernetzung einhergehen. „Ein Großteil der aktuellen Therapiebemühungen gegen Neurodegeneration konzentriert sich darauf, den Krankheitsprozess zu stoppen und bietet wenig Aussicht darauf, verlorene kognitive Fähigkeiten wiederherzustellen. Unser Ansatz könnte dazu beitragen, dies zu ändern und möglicherweise zu Behandlungen führen, die neurologische Funktionen tatsächlich regenerieren. Auf der Grundlage der Prinzipien, die wir für das Design von CPTX verwendet haben, beabsichtigen wir daher weitere Wirkstoffe zu entwickeln. In künftigen Studien wollen wir deren Eigenschaften verfeinern und mögliche therapeutische Anwendungen untersuchen.“
Eine wichtige Starthilfe für diese Studie leistete das „Human Frontier Science Program“.
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Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE)
Das DZNE erforscht sämtliche Aspekte neurodegenerativer Erkrankungen (wie beispielsweise Alzheimer, Parkinson und ALS), um neue Ansätze der Prävention, Therapie und Patientenversorgung zu entwickeln. Durch seine zehn Standorte bündelt es bundesweite Expertise innerhalb einer Forschungsorganisation. Das DZNE kooperiert eng mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene. Das DZNE ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft.