Mit Schwarm-KI gegen COVID und andere Erkrankungen

Verbund von Forschungseinrichtungen nutzt wegweisende Technologie der Künstlichen Intelligenz zur Analyse verteilter Daten

Bonn, 18. Januar 2024. Mehrere deutsche Forschungszentren, Universitäten und Universitätskliniken wollen mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) dezentrale Daten über COVID-19 gemeinsam auswerten. Ihr Ansatz beruht auf „Swarm Learning“, einer neuartigen KI-Technologie, die es ermöglicht, verteilte Datenbestände zu analysieren und dabei die Anforderungen des Datenschutzes vollständig zu erfüllen. Das DZNE koordiniert das auf drei Jahre angelegte Forschungsvorhaben. Die VolkswagenStiftung fördert es mit fünf Millionen Euro. Fachleute aus der Wissenschaftsethik werden das Projekt begleiten. Ziel der Initiative ist es, die Weichen für ein internationales Forschungsnetzwerk und eine Infrastruktur zu stellen, um auf Pandemien besser reagieren zu können.

Medizin und Forschung produzieren immer mehr Daten, wodurch Erkrankungen und die zugrunde liegenden Prozesse immer detaillierter erfasst werden. Im Dschungel dieser Informationen hofft man Schlüssel zu neuen, personalisierten Therapien zu finden, die sich besser als herkömmliche Behandlungen auf einzelne Patientinnen und Patienten zuschneiden lassen. Das ist in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung. „Die Analyse großer Datenmengen erfordert ausgeklügelte Methoden der Informatik, insbesondere aus dem Werkzeugkasten der Künstlichen Intelligenz. Zugleich ist gar nicht so einfach, die Verarbeitung biomedizinischer Daten mit Fragen der Ethik und des Datenschutzes in Einklang zu bringen. Das gilt im besonderen Maße, wenn die Daten nicht zentral vorliegen. Sie sind dann nur schwer zugänglich. Denn Datenschutz und Datenhoheit setzen dem Austausch biomedizinischer Daten über Standorte oder gar Ländergrenzen hinweg enge Grenzen“, sagt Prof. Joachim Schultze, Sprecher des Forschungskonsortiums und Direktor für Systemmedizin am DZNE. „In unserem Projekt verfolgen wir mit Swarm Learning eine elegante Lösung. In Pilotversuchen haben wir diese Technologie bereits erfolgreich getestet, nun wollen wir sie in die Praxis überführen. Als Anwendungsbeispiel haben wir uns COVID-Durchbruchinfektionen vorgenommen. Das heißt, wir wollen verstehen, warum manche Personen trotz Impfung an Corona erkranken.“

Bundesweites Netzwerk

Fachleute aus Berlin, Bonn, Gießen, Hamburg, Homburg, Köln, München und Saarbrücken sind am Projekt beteiligt. „Im Zuge der COVID-19-Pandemie haben die Mitglieder unseres Konsortiums wichtige Beiträge zum Verständnis der Immunantwort auf das Corona-Virus geleistet. Diese Erfahrungen, Expertisen und die lokal jeweils vorhandene Forschungsinfrastruktur bringen wir nun zusammen“, sagt Prof. Leif Erik Sander, Co-Sprecher des Projektverbundes und Direktor der Klinik für Infektiologie und Intensivmedizin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. „Die meisten Durchbruchinfektionen von COVID-19 verlaufen eher milde. Allerdings behandeln wir in letzter Zeit wieder vermehrt Patientinnen und Patienten mit COVID-19 auf der Intensivstation. Daher möchten wir herausfinden, warum es in bestimmten Fällen wieder zu schweren Krankheitsverläufen kommt und ob sich die Immunantwort von der Primärinfektion unterscheidet. Vor allem wollen wir untersuchen, wie sich die Behandlung weiter verbessern lässt.“ Um der Sache auf den Grund zu gehen, sollen – über verschiedene Standorte verteilt – rund 800 Personen untersucht werden, die gegen COVID-19 geimpft sind und trotzdem erkranken. „Um in kurzer Zeit rasch eine hohe Zahl an Studienteilnehmern einzuschließen, arbeiten wir im Verbund. Wir nehmen Proben des Blutes, aus dem Nasen-Rachen-Raum und der Lunge und analysieren diese mit verschiedenen hochauflösenden Messverfahren. Deren Fähigkeiten reichen hinunter bis zur Ebene einzelner Immunzellen und Moleküle. Auf diese Weise lässt sich ein detailliertes Bild der Immunantwort erstellen. Das zeigt uns, wie der Organismus bei unterschiedlichen Krankheitsverläufen mit dem Virus umgeht,“ so Sander.

Lernen im Schwarm

Bei der Auswertung der anfallenden Datenmengen kommt Swarm Learning ins Spiel. Das Verfahren wurde vom DZNE gemeinsam mit dem IT-Unternehmen Hewlett Packard Enterprise (HPE) entwickelt und beruht auf der Kombination von KI und sogenannter Blockchain-Technologie. Der Clou besteht darin, dass Swarm Learning große Mengen verteilter und gegebenenfalls personenbezogener Daten nutzbar macht, ohne dass die eigentlichen Daten ausgetauscht werden: Sie bleiben lokal und im Einklang mit dem Datenschutz vertraulich. „Alle Partner, die ihr Wissen in den Schwarm einbringen, können so voneinander lernen, ohne sensible Informationen weitergeben zu müssen. Denn es werden keine Originaldaten geteilt, sondern Erkenntnisse, die aus diesen Daten abgeleitet sind. Das vereinfacht wissenschaftliche Kooperationen und macht sie wirkungsvoller“, sagt Joachim Schulze. In Testläufen konnte sein Team anhand von Daten aus dem Blut und Röntgenaufnahmen der Lunge die Leistungsfähigkeit des Verfahrens belegen. „Ein weiterer Vorteil von Swarm Learning ist, dass alle Mitglieder des Schwarms gleichberechtigt sind und gleichermaßen profitieren. Im Unterschied zu anderen Technologien, die ebenfalls verteilte Daten verarbeiten, gibt es keine zentrale Instanz, die das Geschehen und die Ergebnisse kontrolliert. Per Swarm Learning lassen sich die Potenziale von Künstlicher Intelligenz und Big Data in demokratischer Weise ausschöpfen.“

Ethische Aspekte

Der Einsatz von KI in der Medizin wird in der Öffentlichkeit viel diskutiert. Das Forschungsprojekt greift diese Problematik auf. „Wir werden auf Selbsthilfegruppen für Menschen, die von COVID betroffen sind, zugehen. Außerdem werden wir Fachleute mit ethischer Expertise von Anfang an einbeziehen“, so Prof. Alena Buyx, Mitglied des Forschungskonsortiums und Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Technischen Universität München. „Viel zu oft stehen ethische und soziale Überlegungen erst am Ende technischer Innovationen. Die Abwägung zwischen technisch Machbarem und gesellschaftlichem Nutzen sollte schon vorher geschehen. Unser Forschungsverbund stellt sich dieser Debatte.“

Einheitliche Protokolle

Eine der ersten Aufgaben für die Mitglieder des Konsortiums ist die Entwicklung standardisierter Messprotokolle und Datenverarbeitungsverfahren. „Alle Projektpartner müssen Daten in gleicher Weise generieren und aufbereiten. Nur dann lassen sich Erkenntnisse standortübergreifend vergleichen. Das ist Voraussetzung, um sie in den Schwarm einzuspeisen“, sagt Joachim Schultze. „Es gibt zum Beispiel diverse Protokolle, um Blutproben zu verarbeiten und daraus einzelne Immunzellen zu isolieren. Auch bei der Verarbeitung der Rohdaten, wie sie unmittelbar aus den Messgeräten kommen, gibt es zahlreiche Möglichkeiten. Wir werden deshalb standardisierte Verfahren erarbeiten, die im Laboralltag auch praxistauglich sind.“

Globale Perspektiven

Mit Blick auf künftige Entwicklungen sei auch eine gewisse Fehlertoleranz und die Bestimmung technischer Mindestanforderungen wichtig, so Schultze. „Wir sehen unser Konsortium als Keimzelle für größere Netzwerke, die sich Swarm Learning zunutze machen. Unser Konsortium ist relativ klein. Wir möchten diese Technologie aber weiter verfügbar machen, das würde Forschung und Medizin einen globalen Datenschatz erschließen. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass unsere Mess- und Datenprotokolle auch im größerem Verbund und in anderen Ländern praktikabel sind, selbst wenn sich die technische Infrastruktur von Ort zu Ort unterscheidet.“ Internationale Partner sollen sich daher dem Projekt anschließen. Gespräche dazu gibt es bereits mit Fachleuten im europäischen Ausland, in den USA, Japan und Australien. Auch Kliniken in afrikanischen Staaten sollen eingebunden werden. „Wir möchten testen, ob Swarm Learning das Rückgrat für ein internationales Forschungs- und Schnellreaktionssystem sein kann. Wenn sich das Konzept für COVID-19 bewährt, könnte man weitere Infektionserkrankungen angehen. Das wäre ein Trumpf im Kampf gegen Pandemien. Außerdem ist der Einsatz von Swarm Learning auch bei anderen Erkrankungen denkbar, die global auftreten. Wie etwa Alzheimer oder Parkinson“, so Joachim Schultze.

Mitglieder des Forschungskonsortiums

  • Prof. Dr. Marylyn Addo, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
  • Prof. Dr. Alena Buyx, Technische Universität München
  • Prof. Dr. Susanne Herold, Universitätsklinikum Gießen und Marburg
  • Prof. Dr. Florian Klein, Uniklinik Köln
  • Prof. Dr. Percy Knolle, Technische Universität München
  • Prof. Dr. Leif Erik Sander, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Co-Sprecher des Forschungskonsortiums
  • Prof. Dr. Martina Sester, Universitätsklinikum des Saarlandes
  • Prof. Dr. Fabian Theis, Helmholtz Munich
  • Prof. Dr. Birgit Sawitzki, Charité - Universitätsmedizin Berlin
  • Prof. Dr. Joachim Schultze, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und Universität Bonn, Sprecher des Forschungskonsortiums

 

Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE): Das DZNE ist ein Forschungsinstitut für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Bis heute gibt es keine Heilung für diese Erkrankungen, die eine enorme Belastung für unzählige Betroffene, ihre Familien und das Gesundheitssystem bedeuten. Das DZNE hat zum Ziel, neuartige Strategien der Vorsorge, Diagnose, Versorgung und Behandlung zu entwickeln und in die Praxis zu überführen. Es hat bundesweit zehn Standorte und kooperiert mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Das DZNE wird staatlich gefördert, es ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und der Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung.

Willkommen auf unserer Webseite, informieren Sie sich hier grundsätzlich cookie-frei.

Wir würden uns freuen, wenn Sie für die Optimierung unseres Informationsangebots ein Cookie zu Analysezwecken zulassen. Alle Daten sind pseudonym und werden nur durch das DZNE verwendet. Wir verzichten bewusst auf Drittanbieter-Cookies. Diese Einstellung können Sie jederzeit hier ändern.

Ihr Browser erlaubt das Setzen von Cookies: