Ein Arzneimittel aus der Immuntherapie könnte das Fortschreiten der schweren neurodegenerativen Erkrankung verlangsamen.
Bonn, 2. November 2022. Ein Medikament, das unter anderem zur Behandlung von Immunkrankheiten verwendet wird, könnte künftig Patienten mit der unheilbaren Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) helfen: Erste Hinweise deuten darauf hin, dass das Immunsystem beim üblicherweise sehr schnellen Fortschreiten von ALS eine Rolle spielt. In einer klinischen Studie an den Standorten Bonn und Berlin werden Forschende vom DZNE zusammen mit der Charité in Berlin und dem Universitätsklinikum Bonn das Medikament Rituximab erproben, das in das Immunsystem eingreift. Sie erhoffen sich dadurch weitere Aufschlüsse über die Behandlungschancen und versprechen sich zugleich einen tieferen Einblick in die Mechanismen von ALS.
„Bislang gelten bei neurodegenerativen Erkrankungen eher die Faltung und der Abbau von Proteinen und der damit verbundene Verlust von Nervenzellen als entscheidend“, sagt Studienleiter Prof. Dr. Harald Prüß: „Dass wir jetzt beim Immunsystem ansetzen, ist deshalb eine neue Behandlungsstrategie.“ Forschende haben zuletzt mehrfach festgestellt, dass sich die Immunzellen bei ALS-Patienten auffällig verhalten; eine neue Veröffentlichung (DOI 10.1038/s41586-022-04844-5) im renommierten Fachmagazin Nature legt nahe, dass bei einem ALS-Untertyp der Schadensmechanismus sogar maßgeblich durch das Immunsystem beeinflusst wird. „Auch bei uns haben wir schon Fälle beobachtet, in denen eine Immuntherapie zu spürbar verbesserten klinischen Funktionen geführt hat“, sagt Harald Prüß, der als Gruppenleiter am DZNE und zugleich als Oberarzt an der Klinik für Neurologie an der Charité arbeitet.
In der Studie soll diesen bisher eher zufälligen Befunden systematisch nachgegangen werden. Eine Kernfrage der Studie wird sein, was im Körper an der Schnittstelle zwischen neurodegenerativen und autoimmunen Erkrankungen vor sich geht. Wie groß ist also der Anteil von Antikörpern an der Krankheitsentwicklung? Und variiert dieser Anteil je nach Ausprägung von ALS? Das sind Fragen, auf die die Forschenden in ihrer Praxis immer wieder stoßen: Bei manchen Patienten sind sich selbst Spezialisten nicht sicher, ob es sich auch wirklich um ALS handelt – etwa, wenn bildgebende Verfahren zusätzliche Veränderungen zeigen oder neben einer motorischen Einschränkung auch weitere Beschwerden wie etwa eine Gleichgewichtsstörung auftreten. Und umgekehrte Fälle treten ebenfalls auf: „Es gibt manche Autoimmunerkrankungen wie etwa eine hochgradige Neuropathie, die im Krankheitsbild so ähnlich aussehen wie ALS“, sagt Harald Prüß.
Das Medikament Rituximab wird bei verschiedenen Erkrankungen eingesetzt, unter anderem für Krebserkrankungen des lymphatischen Systems. Es gilt als gut verträglich und hochwirksam, wenn es um die Absenkung des Antikörperspiegels geht. Bei ALS-Patienten wurden schon in der Vergangenheit neuronale Antikörper festgestellt – und in ihrer Gehirnflüssigkeit, besonders bemerkenswert, antikörperproduzierende Zellen. Die Forschenden zielen besonders auf das Molekül CD20 ab, ein Oberflächenprotein auf der Zelloberfläche von B-Zellen. B-Zellen sind jene Zellen, die Antikörper produzieren – und genau gegen sie richtet sich das Medikament Rituximab, das eine sogenannte B-Zell-Depletion bewirkt, also eine Entfernung der B-Zellen. Daher rührt auch die Abkürzung ABCD für die Studie: Amyotrophic lateral sclerosis treated by B-Cell-Depletion with rituximab.
„Veränderungen im Immunsystem dürften nur in den wenigsten Fällen die alleinige Ursache für ALS sein“, sagt Dr. Rosa Rößling, die zu den Krankheitsmechanismen forscht und die Studie koordiniert. Das Ergebnis werde also selbst im besten Fall keine Heilung der Krankheit sein, sondern ein Bremsen ihrer Weiterentwicklung. „Wir gehen davon aus, dass die Therapie systemmodulierend wirkt und also die vielleicht 10 oder 20 Prozent des Krankheitsverlaufs beeinflussen kann, die in direktem Zusammenhang mit Antikörpern stehen könnten. Allein das wäre aber deutlich mehr, als jedes andere Medikament weltweit derzeit erreichen kann.“
An der Studie nehmen 52 Probanden mit der sporadischen Form der ALS teil, bei denen der Krankheitsausbruch nicht länger als ein Jahr zurückliegt. Die Hälfte der Probanden erhält Rituximab, die andere Hälfte ein Placebo. Die Studie wird sich über mehr als ein Jahr hinziehen: Die ersten beiden Medikamentendosen bekommen die Probanden im Abstand von zwei Wochen verabreicht, die Dosen drei und vier dann jeweils mit einem halben Jahr Abstand.
Wenn sich in der Studie ein Effekt nachweisen lässt, wäre das für ALS-Patienten eine lang ersehnte Nachricht. Für zehntausende von ihnen hätte es einen unmittelbaren Effekt – und überdies lässt sich das Medikament gut mit anderen Therapien kombinieren. Und auch für das Verständnis der Krankheit erhofft sich Studienleiter Harald Prüß weitergehende Erkenntnisse: „Wenn wir zum Beispiel herausfinden, dass die Probanden unterschiedlich stark auf das Medikament reagieren, könnten wir durch eine Biomarkerdiagnostik herausfinden, was die Patienten auf molekularer Ebene unterscheidet.“ Auch das würde für die Entwicklung und Erprobung künftiger ALS-Therapien wichtige Anhaltspunkte liefern.