Neue Hinweise darauf, weshalb unser Orientierungsvermögen dazu neigt, im Alter nachzulassen
Magdeburg, 16. März, 2018. Forscher des DZNE haben eine mögliche Erklärung dafür gefunden, warum die räumliche Orientierung älteren Menschen bisweilen Schwierigkeiten bereitet. In den Gehirnen älterer Erwachsenen konnten sie in einem für die räumliche Navigation wichtigen Bereich eine instabile Aktivität nachweisen. Die Wissenschaftler berichten darüber im Fachmagazin „Current Biology“. Langfristig könnten diese Studienergebnisse den Weg für neue Methoden der Alzheimer-Diagnose bereiten.
Um uns gezielt durch den Raum zu leiten, muss das menschliche Gehirn eine Flut an Informationen verarbeiten: Das Spektrum reicht von visuellen Reizen bis hin zu Signalen der Muskulatur und unseres Gleichgewichtssinns. Räumliches Orientierungsvermögen und Navigation gehören daher zu den komplexesten Fähigkeiten des menschlichen Geistes. Im Alter können diese Fertigkeiten jedoch nachlassen - was Selbstbestimmung und Lebensqualität stark beeinträchtigen kann.
„Bewegt man sich in unbekannter Umgebung, ist es völlig normal, dass man sich verirrt. Tendenziell geschieht dies jedoch häufiger bei älteren Menschen. Bisher wissen wir nur wenig über die neuronalen Mechanismen, die diesen Navigationsproblemen zugrunde liegen“, sagt Matthias Stangl, Forscher am DZNE-Standort Magdeburg und Erstautor der aktuellen Veröffentlichung. „Wir hatten die Vermutung, dass sogenannte Gitterzellen daran beteiligt sein könnten. Denn ein Großteil der Informationsverarbeitung für die Navigation wird von diesen Zellen übernommen. Es handelt sich um besondere Neurone, die sich im sogenannten entorhinalen Cortex des Gehirns befinden. Deshalb haben wir Defizite in der Funktion der Gitterzellen als mögliche Ursache für Navigationsprobleme eingeschätzt.“
In der virtuellen Realität und im realen Raum
Um diese Annahme auf die Probe zu stellen, führten Stangl und Kollegen Versuche mit 41 gesunden jungen sowie älteren Erwachsenen durch. Diese waren in zwei Gruppen aufgeteilt: Die Gruppe der „jungen Erwachsenen“ bestand aus 20 Teilnehmern im Alter zwischen 19 und 30 Jahren, während die Gruppe der „älteren Erwachsenen“ 21 Personen im Alter zwischen 63 und 81 Jahren umfasste. Zu beiden Gruppen gehörten Männer und Frauen.
Eines der Experimente kombinierte funktionelle Hirnbildgebung und virtuelle Realität: Die Teilnehmer mussten durch eine computergenerierte Szenerie navigieren. Gleichzeitig wurde per Magnetresonanztomographie ihre Hirnaktivität erfasst. In einem zweiten Experiment wurde die Fähigkeit zur „Pfadintegration“ untersucht. Bei diesem Test bewegten sich die Teilnehmer entlang vordefinierter Wegstrecken – und zwar nicht geradlinig, sondern auf einer Kurvenbahn. An Zwischenstopps hatten sie die Aufgabe, Entfernung und Orientierung relativ zu ihrem Ausgangspunkt abschätzen. Der Clou: Der Ausgangspunkt war für die Teilnehmer nicht direkt erkennbar. Da dieser Versuch in zwei Ausführungen erfolgte, fand er sowohl im realen Raum als auch in einer virtuellen Umgebung statt.
Instabile Aktivitätsmuster
„Unterm Strich haben die jungen Teilnehmer bei der Navigation besser abgeschnitten, was im Einklang steht mit früheren Studien. Allerdings konnten wir feststellen, dass zwischen verminderter Navigationsleistung und Defiziten in der Aktivität der Gitterzellen ein Zusammenhang besteht“, sagt Prof. Thomas Wolbers, Arbeitsgruppenleiter am DZNE und Leiter der aktuellen Studie. „Vergleicht man junge und ältere Erwachsene, zeigten sich Unterschiede in der Aktivität dieser Nervenzellen. Insbesondere waren die Aktivitätsmuster der Gitterzellen bei älteren Versuchsteilnehmern instabiler. Dies ist ein Hinweis dafür, dass die Funktion dieser Hirnbereiche im Alter beeinträchtigt ist. Das könnte eine Ursache dafür sein, dass viele ältere Menschen Probleme mit der räumlichen Orientierung haben.“
Wolbers ergänzt: „Gitterzellen spielen nicht nur für die Navigation, sondern auch für andere geistige Funktionen eine zentrale Rolle. Deshalb könnten unsere Befunde auf einen Schlüsselmechanismus hindeuten, der kognitiven Defiziten im Alter zugrunde liegt. Unsere Erkenntnisse geben daher nicht nur Aufschluss über neurophysiologische Veränderungen, die im Alter auftreten. Sie könnten auch dazu beitragen, Therapien zu entwickeln, die sich gegen den altersbedingten Verfall kognitiver Fähigkeiten richten.“
Frühzeichen einer Demenz?
Einerseits kann das Navigationsvermögen selbst bei gesunden Erwachsenen altersbedingt nachlassen. Andererseits gilt ein solcher Rückgang als eines der frühesten Symptome einer Alzheimer-Erkrankung. „Eine Analyse der Navigationsleistung und der Funktion der Gitterzellen könnte die Früherkennung von Alzheimer und anderen neurodegenerativen Erkrankungen möglicherweise erleichtern“, sagt Wolbers. „Dazu wäre es notwendig, diagnostische Methoden zu entwickeln, die zwischen einem alterstypischen Rückgang der Navigationsfähigkeit und einem krankheitsbedingten Rückgang unterscheiden können. Dies könnte eine Herausforderung sein. Doch unsere Ergebnisse legen den Grundstein für künftige Studien zu solchen Fragestellungen.“