Gemeinsame Pressemitteilung
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und
Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) an der Technischen Universität Dresden
Neue Erkenntnisse über die Mechanismen der Neuroplastizität
Dresden, 4. Dezember 2020. Reaktive Sauerstoffmoleküle – auch „freie Radikale“ genannt – gelten gemeinhin als schädlich für den Organismus. Doch wie sich nun herausstellt, steuern sie zelluläre Vorgänge, die für die Anpassungsfähigkeit des Gehirns von Bedeutung sind – jedenfalls bei Mäusen. Forschende des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und des Zentrums für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) an der Technischen Universität Dresden präsentieren diese Befunde im Fachjournal „Cell Stem Cell“.
Die Forschenden widmeten sich in ihrer Studie dem „Hippocampus“: Ein Hirnareal, das als Schaltzentrale des Lernens und Gedächtnisses angesehen wird, und in dem ein Leben lang neue Nervenzellen entstehen – also auch im Erwachsenenalter. „Diese sogenannte adulte Neurogenese trägt dazu bei, dass sich das Gehirn zeitlebens anpassen und verändern kann. Das geschieht nicht nur bei Mäusen, sondern auch beim Menschen“, erläutert Prof. Gerd Kempermann, Sprecher des DZNE-Standorts Dresden und Forschungsgruppenleiter am CRTD, die Hintergründe der aktuellen Untersuchung.
Trigger der Neurogenese
Die neuen Nervenzellen gehen aus Stammzellen hervor. „Diese Vorläuferzellen sind eine wichtige Grundlage der Neuroplastizität, also der Anpassungsfähigkeit des Gehirns“, so der Dresdner Wissenschaftler. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen gelangen ihm jetzt neue Einblicke in die Prozesse, die der Neubildung von Nervenzellen zugrunde liegen: Das Forschungsteam konnte an Mäusen nachweisen, dass neurale Stammzellen – im Vergleich zu ausgewachsenen Nervenzellen – in einem hohen Maße freie Radikale enthalten. „Das gilt insbesondere dann, wenn die Stammzellen im Ruhezustand sind, sich also nicht teilen und nicht gerade zu Nervenzellen fortentwickeln“, sagt Kempermann. Ein weiterer Anstieg in der Konzentration der Radikale – das zeigen die aktuellen Untersuchungen – versetzt die Stammzellen in Teilungsbereitschaft. „Die Sauerstoffverbindungen wirken wie ein Schalter, der die Neurogenese in Gang setzt.“
Freie Radikale sind Abfallprodukte des normalen Stoffwechsels. Zelluläre Mechanismen sorgen in der Regel dafür, dass sie nicht Überhand nehmen. Denn die reaktionsfreudigen Sauerstoffverbindungen verursachen oxidativen Stress. „Zu viel davon ist bekanntlich ungünstig, kann Nervenschäden verursachen und Alterungsprozesse anstoßen“, so Kempermann weiter. „Doch offenbar ist das nur ein Aspekt und freie Radikale haben auch ihre guten Seiten. Hinweise dafür gab es zwar schon in anderen Zusammenhängen. Aber dass ausgerechnet die Stammzellen des Gehirns so extrem hohe Werte an Radikalen nicht nur tolerieren, sondern auch für ihre Funktion nutzen, ist neu und überraschend.“
Gesundes Altern
Radikalfänger – auch „Antioxidantien“ genannt – wirken oxidativem Stress entgegen. Deshalb gelten solche Substanzen als wichtige Bestandteile einer gesunden Ernährung. Sie kommen beispielsweise in Obst und Gemüse vor. „Die positive Wirkung von Antioxidantien ist belegt und wird durch unsere Studie nicht in Frage gestellt. Außerdem sollte man vorsichtig sein mit Schlussfolgerungen für den Menschen aus reinen Laborstudien“, betont Kempermann. „Und doch legen unsere Ergebnisse zumindest nahe, dass freie Radikale für das Gehirn nicht grundsätzlich schlecht sind. Sehr wahrscheinlich sind sie sogar wichtig dafür, dass das Gehirn lebenslang anpassungsfähig bleibt und gesund altern kann.“