Fehlgeleitete Immunreaktionen im Fokus
Bonn, 26. August 2022. Fachleute des DZNE beteiligen sich an einem neuen Forschungsverbund, der die Ursachen von „Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom“ (ME/CFS) in der Folge von Infektionskrankheiten wie COVID-19 untersucht und zu besseren Diagnose- und Therapieoptionen beitragen soll. Die Charité – Universitätsmedizin Berlin leitet das Gesamtprojekt, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit etwa 2,1 Millionen Euro gefördert wird. Das vom DZNE koordinierte Teilprojekt wird Störungen in den weißen Blutkörperchen unter die Lupe nehmen – diese Zellen sind wesentliche Akteure des Immunsystems.
In Deutschland sind nach Schätzungen rund 300.000 Menschen von ME/CFS betroffen, darunter etwa 40.000 Jugendliche im Alter unter 18 Jahren. Deren Symptomatik umfasst neben chronischer Erschöpfung häufig auch Muskelschmerzen und neurologische Beschwerden, etwa Gedächtnisstörungen. Viele Patientinnen und Patienten haben erhebliche Schwierigkeiten, ihren Alltag zu bewältigen. „Das Krankheitsbild ist seit Jahrzehnten bekannt, die Ursachen jedoch weitgehend unverstanden. So gibt es zwar Ansätze einige der Symptome zu lindern, allerdings gibt es zurzeit keine wirklich effektive Therapie“, sagt Dr. Anna Aschenbrenner, Gruppenleiterin in der Systemmedizin am DZNE in Bonn. „ME/CFS kann erwiesenermaßen nach schwerwiegenden Infektionen auftreten, zum Beispiel in der Folge von Pfeifferschem Drüsenfieber, Herpes-Infekten oder COVID-19. Infolge der COVID-19-Pandemie werden die Fallzahlen voraussichtlich stark zunehmen. Das fällt dann in das Spektrum der Beschwerden, die Long-COVID genannt werden.“
Immunsystem auf Abwegen?
Befunde legen nahe, dass Patientinnen und Patienten mit ME/CFS eine Fehlsteuerung des Immunsystems entwickeln, welche zu vielen der Symptome beiträgt. Die Mitglieder des bundesweiten Forschungsverbunds werden verschiedene Aspekte dieser Hypothese untersuchen. „In unserem Teilprojekt wollen wir einen detaillierten Blick auf die weißen Blutkörperchen der Patientinnen und Patienten werfen, die an ME/CFS erkrankt sind und vorher Pfeiffersches Drüsenfieber, COVID-19 oder andere Infektionen durchgemacht haben“, erläutert Aschenbrenner.
Gesucht: Marker …
Um den Zustand der Immunzellen zu erfassen, setzt das Team der Bonner Wissenschaftlerin hochempfindliche Messverfahren ein. „Wir werden unter anderem das sogenannte Transkriptom analysieren. Das ist eine molekulare Signatur, aus der sich ablesen lässt, wie es einer Immunzellen geht und ob sie gesund ist oder ob es Störungen gibt“, so Aschenbrenner. „Die Daten des Transkriptoms sind komplex. Für die Analyse werden wir daher ausgeklügelte computerbasierte Analyseverfahren einsetzen. So hoffen wir, in den Daten auf Muster zu stoßen, die für ME/CFS typisch sind.“ Die Forschenden wollen auf diese Weise einen Zusammenhang zwischen den klinischen Symptomen und Geschehnissen auf zellulärer Ebene herstellen. „Aktuell kann man ME/CFS nur mühsam anhand der Beschwerden diagnostizieren. Es gibt bisher keine Laborwerte, mit denen sich das Krankheitsbild erkennen lässt. Solche Biomarker würden die Diagnose sehr vereinfachen.“
… und Therapieansätze
Derlei Marker aufzuspüren, ist ein wichtiges Ziel des Bonner Forschungsprojektes, geleitet durch Anna Aschenbrenner in Kollaboration mit Joachim Schultze (DZNE) und Leif Erik Sander (Charité). Ein weiteres ist es, Ansatzpunkte für die Therapie zu finden. „Wenn wir aus unseren Daten erkennen, ob es Störungen in den Immunzellen gibt und worin sie bestehen, eröffnet sich die Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Dafür wollen wir Wirkstoffkandidaten identifizieren“, sagt Aschenbrenner. Im Sinne eines sogenannten Drug Repurposing geht es dabei um bereits zugelassene Wirkstoffe, die bislang in anderem Zusammenhang verwendet werden. „Der Vorteil dieses Ansatzes besteht darin, dass man von solchen Wirkstoffen schon weiß, dass sie im Prinzip sicher und verträglich sind. Sie kommen daher schneller beim Patienten an, als wenn man ein neues Medikament erst über viele Jahre hinweg entwickeln und testen müsste. Dazu wollen wir mit unserer Forschung einen Beitrag leisten.“