Berlin, 28. September 2017 – Verletzungen des Gehirns oder Rückenmarks erhöhen das Risiko für Lungenentzündungen und andere Infekte. Über die Gründe dafür weiß man bislang wenig. Wissenschaftler am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) haben nun gemeinsam mit Kollegen der Charité – Universitätsmedizin Berlin und US-amerikanischen Forschern eine Ursache gefunden. Bei Laborstudien stießen sie auf einen bislang unbekannten Signalweg, der Nerven- und Immunsystem über Hormone miteinander verbindet. Diese Prozesskette wird durch Rückenmarksverletzungen gestört, das Immunsystem dadurch geschwächt. Befunde an Patienten unterstützen diese Forschungsergebnisse. Sie könnten den Weg bereiten für eine effektivere Behandlung von Infektionen bei Menschen mit akuten oder möglicherweise sogar chronischen Schädigungen des Zentralnervensystems, wie sie bei neurodegenerativen Erkrankungen auftreten.
Rückenmarksschäden und ihre Folgen: Hormonstörung schwächt Immunsystem
Verletzungen am Gehirn oder Rückenmark, beispielsweise durch einen Schlaganfall oder Unfall, schwächen die Immunabwehr. Infolgedessen können sich schwere Infektionen, wie Lungenentzündungen oder Harnwegsinfekte entwickeln. Diese Erkrankungen beeinträchtigen die Regeneration des verletzten Nervengewebes und damit die Rehabilitation der Patienten. Bislang ist jedoch nur wenig bekannt darüber, in welcher Weise Schädigungen des zentralen Nervensystems zu Infektionen beitragen, was eine zielgerichtete Therapie erschwert.
Das Forscherteam um PD Dr. Harald Prüß, Arbeitsgruppenleiter am DZNE-Standort Berlin und Oberarzt an der Klinik für Neurologie der Charité, konnte nun erstmalig einen hierfür wichtigen Mechanismus entschlüsseln. An der Studie war zudem die Arbeitsgruppe von Prof. Frank Bradke am DZNE-Standort Bonn beteiligt.
Ausgangspunkt der Forscher war die Vermutung, dass aus dem Rückenmark kommende Nervenbahnen direkten Einfluss haben auf die Funktion von Immunorganen wie Lymphknoten, Thymus oder Milz.
Umweg über die Nebenniere
„Es war eine große Überraschung, dass diese direkte Ansteuerung nicht für die Fehlfunktion der Immunorgane verantwortlich ist“, erklärt Prüß. Stattdessen geschehe die Fehlsteuerung auf indirektem Weg über eine Störung des Hormonspiegels. „Es gibt Nervenleitungen, die vom Rückenmark bis zu den Nebennieren reichen und damit Produktion und Freisetzung von Hormonen durch die Nebennieren beeinflussen. Bei einer Rückenmarksverletzung werden diese Verbindungen durchtrennt oder zumindest beschädigt“, erläutert der Forscher. „Wir haben festgestellt, dass dadurch die Ausschüttung von Hormonen durch die Nebennieren gestört wird. Der veränderte Hormonspiegel wirkt sich auf die Immunorgane aus und schwächt so letztlich die Abwehrkräfte.“
Die Wissenschaftler stellten fest, dass bei Mäusen mit Rückenmarksverletzungen Lymphknoten, Thymus und Milz an Größe einbüßten. Manche Immunorgane schrumpften um bis zu 80 Prozent, da die Zahl der in ihnen enthaltenen Immunzellen zurückging: Besonders betroffen waren Vorläufer der sogenannten T- und B-Zellen.
Aussichten für die Therapie
„Damit haben wir einen zweiteiligen Reflexbogen entdeckt, der vom Rückenmark zunächst zur Nebenniere und von dort über Hormonsignale bis zum Immunsystem führt. Das öffnet einen ganz neuen Blick darauf, wie Nerven- und Immunsystem zusammenspielen“, so Prüß. „Die Abläufe, die wir mit unserer Studie belegen konnten, wiedersprechen in mancher Hinsicht der gängigen Lehrmeinung. Bislang war man davon ausgegangen, dass bei Verletzungen des Zentralnervensystems andere Reaktionskaskaden angestoßen werden. Insbesondere hatten wir erwartet, dass große Mengen an Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet werden. Wir sehen jedoch, dass die Pegel dieser Stresshormone zurückgehen.“ Analysen des Hormonspiegels von Patienten zeigten zudem: Nach akuter Rückenmarkverletzung verhält sich der Hormonhaushalt beim Menschen ähnlich wie bei der Maus.
Derzeit untersuchen Prüß und seine Kollegen, ob derselbe Reflexbogen auch bei chronischen Erkrankungen des zentralen Nervensystems gestört ist. „Wir möchten herausfinden, ob dieser Signalweg auch bei neurodegenerativen Erkrankungen zur Schwächung des Immunsystems beiträgt“, sagt der DZNE-Forscher. Menschen mit Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium seien beispielsweise besonders anfällig für Lungenentzündungen. „Medikamente, die auf den Hormonhaushalt einwirken, könnten möglicherweise helfen, das Immunsystem zu stärken. Das wäre vielleicht eine wirksame Strategie, um die teils lebensbedrohlichen Infektionen in den Griff zu bekommen.“
Originalpublikation:
“Spinal cord injury-induced immunodeficiency is mediated by a sympathetic-neuroendocrine adrenal reflex”, Harald Prüss, Andrea Tedeschi, Aude Thiriot, Lydia Lynch, Scott M. Loughhead, Susanne Stutte, Irina B. Mazo, Marcel A. Kopp, Benedikt Brommer, Christian Blex, Laura-Christin Geurtz, Thomas Liebscher, Andreas Niedeggen, Ulrich Dirnagl, Frank Bradke, Magdalena S. Volz, Michael J. DeVivo, Yuying Chen, Ulrich H. von Andrian, Jan M. Schwab, Nature Neuroscience (2017). DOI: 10.1038/nn.4643