Europäischer Forschungsverbund erfasst den Beginn von Ataxien
Bonn, 19. August 2020. „Spinozerebelläre Ataxien“ sind erbliche Erkrankungen des Nervensystems, die mit einem Verlust der Bewegungskoordination einhergehen. Ein europäischer Forschungsverbund unter Federführung des DZNE und der Universität Bonn hat nun bei rund 250 Risikopersonen, die zunächst keine Ataxie-Symptome aufwiesen, erfasst, ob und wie sich Symptome über Jahre entwickelten. Es handelt sich um die weltweit erste Studie, die den Beginn einer spinozerebellären Ataxie direkt und anhand einer großen Personengruppe untersucht. Die im Fachjournal „The Lancet Neurology“ veröffentlichten Ergebnisse liefern wichtige Daten für Präventionsstudien.
Der Begriff „Ataxie“ – der sich vom griechischen Wort für „Unordnung“ ableitet – beschreibt eine Reihe von Nervenerkrankungen, bei denen das Zusammenspiel verschiedener Muskelgruppen und infolgedessen die Bewegungskoordination beeinträchtigt ist. „Ataxien äußern sich durch motorische Störungen wie Gangunsicherheit und die Tendenz zu Stürzen. Die Handschrift wird undeutlich, das Greifen und Halten, beispielsweise von Essbesteck, fällt schwer. Auch kann die Sprache undeutlich und verwaschen werden“, erläutert Prof. Thomas Klockgether, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Bonn und Direktor der Klinischen Forschung des DZNE.
Langsame Entwicklung
Ataxien zählen zu den „seltenen Erkrankungen“ und betreffen hierzulande Schätzungen zufolge rund 16.000 Menschen. Für die damit verbundenen Schäden an Kleinhirn und Rückenmark sind diverse Ursachen bekannt. Bislang ist es allerdings nur möglich, die Symptome zu lindern. „Viele Ataxien gehen auf Fehler im Erbgut zurück. Andere Formen der Ataxie sind erworben und können zum Beispiel durch Immunprozesse oder Vitaminmangel verursacht werden“, sagt Klockgether.
Generell entwickeln sich Ataxien langsam, über Jahre hinweg. Bei der Untergruppe der „spinozerebellären Ataxien“, die den erblich bedingten Ataxien angehören, treten markante Symptome in der Regel erst im Erwachsenen-Alter auf. „Während der präsymptomatischen Phase sind die Nervenschäden noch gering. Man geht davon aus, dass in diesem Zeitraum die Chancen am größten sind, den späteren Krankheitsverlauf zu beeinflussen und möglicherweise zu verlangsamen. Also präventiv vorzugehen“, sagt Klockgether weiter. „Für die Therapie-Entwicklung ist neben einer besseren Früherkennung auch ein genaueres Verständnis des Krankheitsverlaufs erforderlich. So lassen sich Zeitfenster bestimmen, in denen eine Behandlung Aussicht auf Erfolg hat.“
Bislang größte Studie
Wichtige Erkenntnisse dazu liefert nun die bislang größte Untersuchung über den zeitlichen Beginn spinozerebellärer Ataxien. Die Daten wurden von einem von Thomas Klockgether koordinierten Forschungsverbund erhoben, der 14 wissenschaftliche Einrichtungen aus sieben europäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Spanien und Ungarn) umfasst. Insgesamt untersuchten die Forschenden bei 252 Erwachsenen – allesamt Kinder oder Geschwister von Menschen mit spinozerebellärer Ataxie und daher Risikopersonen – wie sich deren Bewegungskoordination über einen mehrjährigen Zeitraum entwickelte. Die Studie, die bereits 2008 mit der Einwerbung von Probanden startete, deckt die vier häufigsten Varianten spinozerebellärer Ataxien ab: Diese werden nach internationaler Nomenklatur mit SCA1, SCA2, SCA3 und SCA6 bezeichnet.
Zu Studienbeginn zeigten alle Teilnehmenden keine Ataxie. Etwa die Hälfte davon waren allerdings „Mutationsträger“, sie hatten also Ataxie auslösende Erbanlagen. Diese genetischen Befunde waren anonymisiert, um die Datenauswertung nicht zu beeinflussen. Rund die Hälfte der Mutationsträger entwickelte im Laufe des Studienzeitraums tatsächlich Krankheitssymptome. „Bei den übrigen Mutationsträgern ist dies auch noch zu erwarten. Wir werden die gesundheitliche Entwicklung aller Studienteilnehmer weiter verfolgen“, so Klockgether.
Bessere Biomarker nötig
Die nun vorliegenden Ergebnisse liefern präzise Daten über den Verlauf von der präsymptomatischen Phase bis zum Auftreten von Krankheitssymptomen. „Unsere Studie zeigt, dass sich mit den etablierten Tests der Bewegungskoordination eine Ataxie tatsächlich erst dann erkennen lässt, wenn die Krankheit schon relativ weit fortgeschritten ist. Das wäre zu spät für eine frühe Behandlung. Es bedarf unbedingt zusätzlicher Biomarker, die schon vor dem Auftreten klinischer Symptome anschlagen“, sagt Dr. Heike Jacobi, Ärztin am Universitätsklinikum Heidelberg, die sich mit einer französischen Kollegin die Erstautorenschaft der aktuellen Veröffentlichung teilt. Ideal wären Messwerte, die sich aus einer einfachen Blutprobe ablesen lassen. Auch Hirnscans könnten möglicherweise wertvolle Indizien liefern, so Jacobi. „Einige unserer Studienteilnehmer wurden per Magnetresonanztomographie untersucht. Tendenziell sehen wir, dass bei einigen Ataxie-Formen bestimmte Hirnregionen bereits vor Beginn der Ataxie-Symptome schrumpfen. Da unsere Stichprobe an MRT-Untersuchungen relativ klein war, sollte man diesen Effekt aber anhand größerer Studiengruppen überprüfen.“
Grundlagen für die Therapie-Entwicklung
Für Präventionsstudien liefern die aktuellen Ergebnisse wertvolle Informationen. Solche Studien werden genau geplant. „Dafür ist es wichtig, abzuschätzen, wie groß eine Studiengruppe sein muss, um innerhalb eines gewissen Zeitraumes nachweisen zu können, ob ein neues Medikament wirksam ist. Unsere Befunde liefern nun erstmals Daten, die eine solche Berechnung ermöglichen“, so Klockgether. Demnach sollten rund 170 bis 270 Mutationsträger in solche Studien eingeschlossen werden, um innerhalb von zwei Jahren eine statistisch relevante Verzögerung des Krankheitsbeginns erwarten zu können. Die genaue Größe der Studiengruppe hängt dabei von der Ataxie-Form ab. „Für die Behandlung spinozerebellärer Ataxie gibt es experimentelle Ansätze, die darauf abzielen, die Wirkung der krankmachenden Genmutationen zu verringern. Die Pharmaindustrie plant dazu klinische Tests. Unsere Ergebnisse liefern wichtige Grundlagen für das Design solcher Studien“, sagt Klockgether.
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Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE)
Das DZNE erforscht sämtliche Aspekte neurodegenerativer Erkrankungen (wie beispielsweise Alzheimer, Parkinson und ALS), um neue Ansätze der Prävention, Therapie und Patientenversorgung zu entwickeln. Durch seine zehn Standorte bündelt es bundesweite Expertise innerhalb einer Forschungsorganisation. Das DZNE kooperiert eng mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene. Das DZNE ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft.