Verloren gegangen: Wenn das „Navi“ im Kopf fehlerhaft wird

Magdeburg, 31. August 2017 – Der Orientierungssinn zählt zu den herausragenden Fähigkeiten des menschlichen Geistes. Im Alter kann diese Begabung allerdings nachlassen – und eine Alzheimer-Erkrankung kann diese Entwicklung noch verschärfen. Eine Übersicht dieses Themenfeldes bietet ein nun im Fachjournal „Neuron“ erschienener Artikel: Prof. Thomas Wolbers vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Magdeburg und Fachkollegen schildern darin, was über den Orientierungssinn bekannt ist und wie dessen Vermessung in der Diagnose und Therapie von Demenzerkrankungen zum Einsatz kommen könnte.

Hr. Wolbers, woran forschen Sie? 

Wir untersuchen, wie das Navigationssystem in unserem Kopf funktioniert, wie es sich mit dem Alter verändert und was man tun kann, um Orientierungsproblemen entgegenzuwirken. Insbesondere möchten wir Kriterien finden, um alterstypische von krankheitsbedingten Orientierungsstörungen zu unterscheiden. Solche Kriterien könnten helfen, eine Demenz möglichst frühzeitig zu erkennen. 

Wie gehen Sie dabei vor? 

Für unsere Studien verwenden wir unter anderem Virtual Reality. Die Versuchspersonen müssen sich in einer vom Computer generierten Umgebung die Lage von Gebäuden merken oder andere Aufgaben lösen, die das räumliche Orientierungsvermögen fordern.

 Was weiß man denn über das „Navi“ im Kopf?

Für die räumliche Orientierung müssen Sinnesorgane und bestimmte Hirnbereiche zusammenspielen. Mit den Augen beispielsweise nehmen wir unsere Umgebung wahr. Sie vermitteln auch Informationen darüber, ob und wie schnell wir uns bewegen. Unser Gleichgewichtssinn liefert ebenfalls Informationen über unsere Bewegung und die Ausrichtung unseres Körpers. Gleichzeitig gibt es im Gehirn besondere Nervenzellen, die wie eine Art GPS funktionieren. Genau genommen gibt es dafür diverse, hochspezialisierte Zelltypen. Manche verarbeiten Geschwindigkeitsdaten, andere wiederum Informationen über die räumliche Position und Orientierung. Gemeinsam erstellen diese verschiedenen Zellen ein mentales Abbild der Umgebung. Um dann von A nach B zu gelangen, muss diese geistige Landkarte mit dem Datenstrom der Sinnesorgane ständig abgeglichen werden. Im Alter ist es durchaus möglich, dass sich dabei Fehler einschleichen. 

Was sind denn typische Alterserscheinungen? 

Bewegt man sich durch eine unbekannte Stadt, so ist es völlig normal, dass man sich verläuft. Aber ältere Menschen neigen im Vergleich zu jüngeren Menschen eher dazu. Dafür kann es viele Ursachen geben. So fällt es älteren Menschen in der Regel schwerer, Entfernungen abzuschätzen und sich Richtungsänderungen zu merken. 

Es liegt also an der nachlassenden Gedächtnisleistung? 

Im Detail ist vieles noch unklar. Aber es ist jedenfalls nicht nur eine Frage des Erinnerungsvermögens. Denn nicht immer gehen solche Defizite mit einem allgemeinen Gedächtnisverlust einher. Man muss den räumlichen Orientierungssinn als eigenständige kognitive Funktion betrachten, die mit dem Alter an Genauigkeit verliert. Zudem lässt auch die Leistung der Sinnesorgane mit dem Alter nach. Die Wahrnehmung der Umgebung und das GPS im Kopf arbeiten dann nicht mehr optimal zusammen. 

Was hat das für Konsequenzen? 

Die Erfahrung zeigt, dass viele ältere Menschen dazu neigen, sich bevorzugt in vertrauter Umgebung aufzuhalten. Das kann zu Lasten der Mobilität und sozialer Aktivitäten gehen. 

Bei Menschen mit Alzheimer können Orientierungsstörungen besonders ausgeprägt sein. Warum?  

Die Alzheimer-Krankheit fügt dem Gehirn massive Schäden zu. In den letzten Jahren hat man herausgefunden, dass dabei auch das Navigationsnetzwerk schon im Frühstadium der Erkrankung Schaden nimmt. Deshalb kann es passieren, dass Menschen mit Alzheimer plötzlich nicht mehr wissen, wie sie nach einem Einkaufsbummel wieder den Weg nachhause finden. Das sind einschneidende Erfahrungen, die die Betroffenen ungemein verunsichern können. Darunter leidet ihre Lebensqualität und Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Zudem können Orientierungsstörungen auch für die Angehörigen zu einer großen Belastung werden. 

Inwiefern könnten Tests des Orientierungsvermögens bei der Diagnose helfen? 

Eine spezialisierte Diagnostik des Orientierungssinns könnte es ermöglichen, eine Alzheimer-Erkrankung früher zu entdecken, als es heute üblich ist. Zumal Studien nahelegen, dass schon im Anfangsstadium von Alzheimer subtile Orientierungsprobleme auftreten können. Somit könnte man die Betroffenen auch frühzeitiger behandeln. Heute verfügen wir zwar über standardisierte Tests der Gedächtnisleistung. Für den Orientierungssinn gibt es bislang aber nichts Vergleichbares.

Einsatzmöglichkeiten sehen Sie auch bei der Therapie?

Zunächst einmal wäre es wichtig, therapeutische Ansätze zu entwickeln, die die Funktionsfähigkeit unseres Orientierungssinns erhalten. Schließlich wäre es aber auch denkbar, mit Hilfe des räumlichen Orientierungssinns zu messen, ob eine Therapie gegen Alzheimer wirksam ist. Man könnte also den Erfolg einer Behandlung überprüfen.

Wo sehen Sie besonderen Forschungsbedarf?

Wir wissen noch zu wenig darüber, wie sich das Orientierungsvermögen mit dem Alter natürlicherweise verändert. Dazu gibt es nur punktuelle, aber keine langfristige Studien. Ein besseres Verständnis des Alterungsprozess ist aber Voraussetzung, um alterstypische von krankheitsbedingten Veränderungen unterscheiden zu können. An dieser Fragestellung arbeiten wir auch in unserer Arbeitsgruppe.

Originalveröffentlichung
„The Aging Navigational System“, Adam W. Lester et al., Neuron (2017)
DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.neuron.2017.06.037

Weitere Informationen
A decline in navigational skills could predict neurodegenerative disease, Cell Press (2017)

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