Berlin, 6. November 2023. Dr. Dragomir Milovanovic, Neurowissenschaftler am Berliner Standort des DZNE, hat vom Europäischen Forschungsrat (European Research Council, ERC) einen „Starting Grant“ in Höhe von 1,5 Millionen Euro erhalten, um mit einem innovativen Forschungsprojekt biophysikalische Phänomene im Kontext von Hirnerkrankungen zu untersuchen. Letztlich geht es um ein besseres Verständnis des Verhaltens anomaler Ansammlungen von Proteinen bei neurodegenerativen Erkrankungen.
Menschliche Zellen sind komplexe Konstrukte, die aus Proteinen, Fettstoffen und einer Vielzahl weiterer Moleküle bestehen, von denen einige geordnete Domänen bilden, während andere quasi herumschwimmen. „Das Innere einer Zelle ist keineswegs eine homogene Masse. Es enthält verschiedene Bestandteile wie die Mitochondrien, gewissermaßen die Kraftwerke der Zelle, oder den Zellkern, in dem das Genom untergebracht ist“, sagt Milovanovic. „Und es gibt weitere komplizierte Strukturen, die für die reibungslose Funktion einer Zelle unerlässlich sind. Alle diese sogenannten Organellen sind in eine Flüssigkeit eingebettet, dem Zytosol. Das wiederum ist eine Art Cocktail aus verschiedenen Zutaten.“
Mikroskopische Tröpfchen
Vor diesem Hintergrund hat der Berliner Wissenschaftler das nun geförderte Forschungsprojekt „MemLessInterface“ konzipiert, mit dem er aufklären möchte, wie verschiedene Bestandteile im Inneren von Nervenzellen zusammenwirken: Eine Frage, die nicht nur für den „Normalbetrieb“ von Bedeutung ist, sondern auch für krankhafte Prozesse, wie sie beim Untergang von Nervenzellen, der sogenannten Neurodegeneration auftreten. Konkret werden Milovanovic und sein Team das Aufeinandertreffen von Membranen und sogenannten biomolekularen Kondensaten untersuchen. „Einige der Zellorganellen sind von einer Hülle aus Fettmolekülen umgeben, die nennt man Membran. Andererseits gibt es im Zytosol biomolekulare Kondensate. Sie ähneln winzigen Tröpfchen, die in einer größeren Flüssigkeit schweben und keine Membranen aufweisen“, erläutert er.
Nahe Begegnungen
„Biomolekulares Kondensat“ ist ein Oberbegriff, der eher fluides Verhalten als chemische Zusammensetzung beschreibt. Tatsächlich können diese Kondensate eine Vielzahl von Biopolymeren beinhalten: beispielsweise Ansammlungen von Proteinen, Nukleinsäuren oder noch komplexere Strukturen. Bei Alzheimer, der Lewy-Körperchen-Demenz und anderen neurodegenerativen Erkrankungen laufen solche Kondensate aus dem Ruder. Ihre Regulation ist gestört. Infolgedessen häufen sich abnormale Proteine an, was zu zellulärer Fehlfunktion und dem Verlust von Nervenzellen beiträgt. Biomolekulare Kondensate gibt es allerdings auch in gesunden Zellen. „Derzeit ist man sich einig, dass diese Kondensate an zellulären Funktionen wie der Verpackung von Nukleinsäuren oder der Kommunikation zwischen Nervenzellen beteiligt sind. Dazu müssen sie mit anderen Bestandteilen der Zelle interagieren, insbesondere mit Organellen, die von Membranen umgeben sind“, so Milovanovic. Bislang wisse man jedoch nicht, was passiert, wenn Organellen mit Membranen auf biomolekulare Kondensate treffen. “Bleiben sie zusammen oder trennen sie sich wieder? Und wovon hängt das ab? An dieser Stelle setzt mein Projekt an. Ich möchte herausfinden, was bei diesen molekularen Rendezvous geschieht“, sagt der Wissenschaftler. „Ich vermute, dass diese erste Begegnung maßgeblich ist und darüber entscheidet, ob sich daraus eine harmonische oder eine pathologische Beziehung entwickelt. Ich meine das nicht nur metaphorisch, es geht tatsächlich um die Wurzeln der Neurodegeneration.“
Der äußere Rand
Um dem auf den Grund zu gehen, werden der Berliner Forscher und sein Team modernste wissenschaftliche Verfahren einsetzen. Exemplarisch stehen dabei „Kondensate synaptischer Vesikel“ im Mittelpunkt. Dabei handelt es sich um Ansammlungen kleiner Bläschen, die von Proteinen wie einer Art Flüssigkleber zusammengehalten werden. Solche Kondensate treten am äußeren Rand von Nervenzellen auf: In der „Synapse“, wo sich Nervenzellen miteinander verbinden. „Kondensate synaptischer Vesikel bestehen aus einem biomolekularen Kondensat, das durch die Klebeproteine dargestellt wird, und sie enthalten auch Membranen. Nämlich die Membranen, aus denen die Bläschen bestehen. Diese Situation bietet die Möglichkeit, Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Komponenten zu untersuchen“, erläutert Milovanovic. „Damit gewinnen wir Einblicke in den Kontakt zwischen membranlosen und membrangebundenen Bestandteilen der Zelle. Das ist entscheidend für das Verständnis der regulären Funktion von Nervenzellen und auch wichtig im Zusammenhang mit Hirnerkrankungen, die mit der Aggregation von Proteinen einhergehen.“
Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE): Das DZNE ist ein von Bund und Ländern gefördertes Forschungsinstitut, das bundesweit zehn Standorte umfasst. Es widmet sich Erkrankungen des Gehirns und Nervensystems wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Bis heute gibt es keine Heilung für diese Erkrankungen, die eine enorme Belastung für unzählige Betroffene, ihre Familien und das Gesundheitssystem bedeuten. Ziel des DZNE ist es, neuartige Strategien der Vorsorge, Diagnose, Versorgung und Behandlung zu entwickeln und in die Praxis zu überführen. Dafür kooperiert das DZNE mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Das Institut ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und zählt zu den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung.