Forscher vom DZNE lösen ein wichtiges Rätsel der Neurobiologie: Die Verkabelung und die Bewegung von Nervenzellen hängen zwar eng zusammen, werden aber unabhängig voneinander gesteuert.
Bonn, 15. Februar 2023. Im Mittelpunkt der Studie stehen das Wachstum und die Migration von Nervenzellen: Wenn sich Neuronen bilden, verkabeln sie das Gehirn, um die Kommunikation mit den übrigen Neuronen zu ermöglichen. Eines dieser Kabel, das sogenannte Axon, kann sehr lang werden: diese Kabel bilden die Grundlage für neuronale Netzwerke. Gleichzeitig wandern die Neuronen und setzen sich im Kortex fest, der Hirnrinde. Diese Wanderung wird als Migration bezeichnet. Bemerkenswerterweise werden diese dynamischen Prozesse separat gesteuert: Das Axon wächst auch dann noch weiter, nachdem das Neuron seinen Platz im Kortex gefunden hat. „Wir haben herausgefunden, dass das Zentrosom – ein Organell, das die Zellteilung reguliert - diese neuronale Migration steuert. Für die Bildung und das Wachsum des Axons spielt es indes keine Rolle“, sagen Dr. Stanislav Vinopal und Dr. Sebastian Dupraz vom DZNE, die Erstautoren der Studie, die jetzt im renommierten Fachmagazin Neuron erscheint.
Bislang war es unter Experten strittig, welche Rolle in diesem Prozess das sogenannte Zentrosom spielt. Der Prozess von Wachstum und Migration wird von einem dynamischen Zellgerüst gestuert, dem Zytoskelett. Dieses Zytoskelett beinhaltet mikroskopisch kleine Röhren, die sogenannten Mikrotubuli. Diese bilden das Rückgrat des Axons und können durch das Zentrosom gebildet werden. Die beteiligten Forscher aus der Arbeitsgruppe von Professor Dr. Frank Bradke haben mit ihren Ergebnissen ein zentrales Rätsel aus dem Feld der Neurobiologie gelöst, um dessen Klärung sich die Wissenschaft schon seit Jahren bemüht.
Dass das Wachstum des Axons und die Steuerung seiner Migrationsbewegung nicht zusammenhängen, ist ein unerwartetes Ergebnis: „Beide Aktionen laufen synchron ab und beide hängen mit den Mikrotubuli zusammen. Trotzdem werden sie offenbar unabhängig voneinander gesteuert“, sagt Stanislav Vinopal, der nach seiner Tätigkeit für das DZNE jetzt an der Jan-Evangelista-Purkyne-Universität im tschechischen Usti nad Labem forscht.
Für ihre Untersuchung entwickelten die Forscher neuartige molekulare Instrumente ein. „Sie erlauben uns, die Funktion des Zentrosoms bei der Bildung von Miktrotubuli präzise zu steuern“, erläutert Sebastian Dupraz. So lässt sich seine Aktivität unterbinden oder verstärken. Im Gehirn von Mäusen zeigten die Wissenschaftler: Das Axon wächst unabhängig davon, wie stark die Aktivität des Zentrosoms ist – auf die Migration aber hat seine Aktivität einen signifikanten Einfluss. „Für das Wachstum des Axons ist offenbar ein anderer Mechanismus zuständig, die sogenannte azentrosomale Bildung von Mikrotubuli“, schlussfolgert Dupraz: „Die wird jetzt zum Gegenstand unserer weiteren Forschung.“
Mit ihrer Arbeit können die Wissenschaftler jetzt zwei Theorien miteinander in Einklang bringen, die sich bislang widersprachen: Es gab Verfechter der Theorie, dass das Zentrosom eine bedeutende Rolle bei der neuronalen Entwicklung spielt und solche, die das bestreiten. „Wir haben die beiden Mechanismen, die in den Neuronen parallel ablaufen, für unsere Studie getrennt betrachtet“, sagt Stanislav Vinopal: „Für das Wachstum des Axons selbst haben wir herausgefunden, dass das Zentrosom unbedeutend ist. Für den Prozess der Migration hingegen spielt es eine bedeutende Rolle.“
Die Entdeckung der DZNE-Wissenschaftler kann dazu beitragen, eine molekulare Therapie für einige erbliche Krankheiten wie etwa sogenannte Pachygyrien zu entwickeln: Die Mutationen des zentrosomalen Proteins Gamma-Tubulin spielen bei ihnen eine Schlüsselrolle, und auch bei ihnen sind die Axone meistens intakt, während die neuronale Migration auf Probleme stößt. „Vermutlich steckt der gleiche molekulare Mechanismus hinter diesen Störungen, so dass eine künftige Therapie an dieser Stelle ansetzen könnte“, heißt es bei den Forschern vom DZNE.