Demenzforschung mit dem Smartphone
Das Magdeburger Start-Up „neotiv“ – das mit dem DZNE kooperiert – hat eine mobile App zur Erfassung der Gedächtnisleistung entwickelt. Der Neurologe Emrah Düzel, Standortsprecher des DZNE in Magdeburg und Mitgründer von neotiv, erläutert im Interview, wie das DZNE dieses digitale Werkzeug nutzt und dass die App künftig im medizinischen Alltag zum Einsatz kommen soll.
Professor Düzel, welche Aufgabe haben Sie bei neotiv?
Ich bin einer der Gründer und fungiere als Berater für medizinische Themen.
neotiv hat eine App entwickelt, die digitale Gedächtnistests beinhaltet. Wie funktioniert das?
Die App funktioniert über Bilder und Merkaufgaben, die gezielt jene Hirnregionen beanspruchen, die schon früh von der Alzheimer-Erkrankung betroffen sind. Es werden beispielsweise Bilder von Räumen eingeblendet, in denen sich Alltagsgegenstände befinden. Beispielsweise Stühle oder Tische. Man wird dann aufgefordert, sich diese Objekte zu merken. Das wird später abgefragt. An anderer Stelle der App geht es darum, sich an Fotographien zu erinnern oder zu erkennen, ob die angezeigten Bilder Außen- oder Innenaufnahmen sind. Die Testbatterie umfasst also unterschiedliche Aufgaben, die gezielt bestimmte Gedächtnis- und die Wahrnehmungsprozesse auf die Probe stellen. Insofern können auffällige Ergebnisse ein Indiz sein, dass etwas nicht in Ordnung ist und eine Alzheimer-Erkrankung im Frühstadium in Betracht gezogen werden sollte.
Kann diese App der Nutzerin oder dem Nutzer Gedächtnisstörungen anzeigen?
Nein, die App ist kein Instrument der Selbstdiagnose. Langfristig soll sie jedoch Ärztinnen und Ärzten als Hilfsmittel dienen. Sie soll ein Werkzeug sein, das die diagnostische Einordnung von Gedächtnisstörungen und Demenzerkrankungen unterstützt. Aktuell wird die App ausschließlich im Rahmen wissenschaftlicher Studien verwendet.
Wo geschieht das?
Die App ist bei klinischen Studien in Deutschland, Schweden und den USA bereits im Einsatz. Unter diesen Studien ist auch eine des DZNE, in der es um die Früherkennung von Demenz geht. Dazu werden die Teilnehmenden einmal im Jahr untersucht. Das beinhaltet neuropsychologische Gedächtnistests, die Untersuchung des Gehirns im Magnetresonanztomografen und eine Blut-Analyse. Von einigen Studienteilnehmenden wird außerdem Nervenwasser entnommen. Die App dient als zusätzliches Messinstrument. Von den bundesweit etwa 1000 Studienteilnehmenden sollen langfristig 200 die App verwenden. Rund 80 nutzen sie bereits.
Was verspricht man sich davon?
Regulär werden die Studienteilnehmenden nur einmal im Jahr untersucht. Das ist ein recht grobes Raster. Interessant ist es zu wissen, wie sich die Gedächtnisleistung in der Zwischenzeit verändert, um den zeitlichen Verlauf besser erfassen zu können. Hier kommt die App ins Spiel. Sie fordert alle zwei Wochen dazu auf, einen Test zu machen. Die Ergebnisse werden dem DZNE übermittelt und mit den Befunden der alljährlichen Untersuchung abgeglichen. Die Daten der App sind einerseits interessant für die Forschung, andererseits ist dieser Abgleich Teil des sogenannten Validierungsprozesses. Hier geht darum, nachzuweisen, dass die Testergebnisse der App klinisch relevant sind - die App also kognitive Auffälligkeiten erkennen kann. Eine solche Validierung ist Voraussetzung für den Einsatz außerhalb von Studien und Forschung. Die App soll ja langfristig in den medizinischen Alltag einziehen und die Versorgung von Patienten verbessern. Ziel ist die Zulassung als digitale Gesundheitsanwendung. Dafür muss die App eine ganze Reihe von Kriterien erfüllen und Prüfungen durchlaufen, die gesetzlich vorgeschrieben sind.
Wie käme die App zum Einsatz?
Klassische Gedächtnistests liefern nur Momentaufnahmen. Sie sagen nichts darüber aus, wie und in welchem Tempo sich Gedächtnisprobleme entwickeln. Dafür bedarf es regelmäßiger Untersuchungen über einen längeren Zeitraum. Es ist aber enorm aufwändig, wenn Betroffene dafür regelmäßig in die Praxis oder Gedächtnisambulanz gehen müssen. Die Idee ist daher, dass Ärzte die App auf Rezept verschreiben können, wenn Patienten mit Gedächtnisproblemen zu ihnen kommen. Die Betroffenen könnten die Tests dann zuhause durchführen. Die Ergebnisse würden dann an die Arztpraxis verschlüsselt übermittelt und beim nächsten Praxisbesuch besprochen. Das ist im gewissen Sinne wie bei einem Langzeit-EKG. Auf diese Weise ließen sich besser als bisher kognitive Auffälligkeiten erkennen und entscheiden, ob weitere Diagnostik nötig ist, um eine Demenz zu bestätigen oder auszuschließen.
Es geht also um Diagnose?
Nicht nur. Es geht auch darum, das Gesundheitssystem auf künftige Therapien vorzubereiten. Noch gibt es keine Möglichkeiten, eine Demenz effektiv zu behandeln. Doch die Ansätze, die sich abzeichnen, deuten darauf hin, dass eine Behandlung frühestmöglich beginnen sollte. Die App könnte einerseits die Früherkennung unterstützen und so helfen, Personen zu identifizieren, die für eine Therapie geeignet sich. Anderseits kann man sich vorstellen, dass die App eine Therapie durch Monitoring begleitet. Tests mit der App könnten helfen zu überprüfen, ob therapeutische Maßnahmen anschlagen und sich auf die Gedächtnisleistung positiv auswirken.
Wann könnte es die App auf Rezept geben?
Der Plan ist, dass die App bis 2021 die nötige, zunächst vorläufige Zulassung erhält. Wie schon erwähnt, müssen dafür diverse regulatorische Kriterien erfüllt sein. Auf dem Weg dorthin wird neotiv von RoX Health unterstützt. Das ist ein Unternehmen, das auf digitale Gesundheitsanwendungen spezialisiert ist. Neben der Nutzung durch Patienten in der Regelversorgung soll die App aber auch weiterhin im Rahmen von Forschungsprojekten über Gedächtnis und Demenz eingesetzt werden. Hier werden das DZNE und neotiv auch künftig zusammenarbeiten.
Das Interview führte Dr. Marcus Neitzert.
Oktober 2020