“Sprechfähige” Nervenzellen regenerieren sich nicht

Ausgewachsene Nervenzellen des zentralen Nervensystems regenerieren sich nicht, wenn sie geschädigt wurden, zum Beispiel durch eine Rückenmarksverletzung. Eine im Fachjournal „Neuron“ veröffentlichte Studie von Forschenden des DZNE liefert Hinweise darauf, dass diese Unfähigkeit zur Wiederherstellung eng mit der Eigenschaft der Nervenzellen zusammenhängt, miteinander zu kommunizieren. Konkret fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heraus, dass zwei Proteine, die für die so genannte synaptische Übertragung zwischen Nervenzellen entscheidend sind, das Auswachsen von Zellfortsätzen verhindern. Diese Befunde geben Aufschluss über die Mechanismen von Nervenverletzungen und könnten bei der Suche nach besseren Behandlungsmethoden helfen.


Während der Embryonalentwicklung entwickeln Nervenzellen Fortsätze, „Axone“ genannt, mit denen sie andere Nervenzellen erreichen und schließlich Kontakte zu diesen herstellen. Allerdings geht diese Fähigkeit später verloren. Nervenzellen des adulten (ausgewachsenen) Gehirns und Rückenmarks sind nämlich nicht in der Lage, Axone neu zu bilden oder zu regenerieren. Wird also beispielsweise die Wirbelsäule verletzt, kann dies schwerwiegende Folgen haben, weil die im Rückenmark verlaufenden Nervenfasern nicht von selbst heilen oder nachwachsen. Dadurch kann die Kommunikation zwischen dem Gehirn und dem Rest des Körpers dauerhaft gestört werden – mögliche Folgen sind Lähmungen und andere Behinderungen. Am DZNE-Standort Bonn erforscht ein Team um Prof. Frank Bradke die molekularen Mechanismen, die solchen Verletzungen zugrunde liegen. „Adulte Nervenzellen regenerieren sich nicht nach einer Schädigung. Andererseits zeichnen sich adulte Nervenzelle dadurch aus, dass sie mit anderen vernetzt sind und mit ihnen Signale austauschen. Dies legt nahe, dass sie nicht beides gleichzeitig können. Mit anderen Worten: Die Zellen können entweder wachsen oder miteinander sprechen. Unsere Ergebnisse stützen diese Hypothese“, sagt Bradke.

Gen- und Laboruntersuchungen

Für die aktuelle Studie befassten sich die Forschenden mit den dorsalen Wurzelganglien (DRG), einer neuronalen Struktur im Rückenbereich, die den Signalaustausch zwischen dem Rückenmark und dem Rest des Körpers vermittelt. „Die Nervenzellen der DRG sind besonders, weil sie unter bestimmten Bedingungen die Fähigkeit erlangen, Axone nachwachsen zu lassen und somit regenerationsfähig werden. Von der Untersuchung dieser Nervenzellen erhofft man sich daher Einblicke in die Mechanismen der Regeneration“, so Brett Hilton, Postdoc in Bradkes Arbeitsgruppe und Erstautor der aktuellen Veröffentlichung in „Neuron“. „Wir haben vermutet, dass die Genexpression dieser Nervenzellen Aufschluss darüber geben kann, worauf die Fähigkeit zum axonalen Wachstum beruht. Deshalb haben wir untersucht, welche Gene hoch- oder herunterreguliert sind – einerseits während der Embryonalentwicklung und andererseits, wenn adulte Nervenzellen der DRG Wachstumsfähigkeit erwerben. Durch diese Analysen, kombiniert mit Studien an Zellkulturen und Mäusen, sind wir schließlich auf zwei Proteine gestoßen. Diese kommen in den synaptischen Endigungen der Nervenzellen vor und verhindern, dass adulte Nervenzellen Axone entwickeln. Sie unterdrücken also eine Regeneration.“

Die identifizierten Moleküle mit den Namen „Munc13“ und „RIMs“ treten im „präsynaptische Endknöpfchen“ auf, dem äußersten Ende eines Axons. Beide Proteine sind an einem Prozess beteiligt, der als „Vesikel-Priming“ bezeichnet wird und letztlich zur Freisetzung von Neurotransmittern führt, chemischen Verbindungen, über die Nervenzellen miteinander kommunizieren. „Experimente, bei denen wir diese Proteine sozusagen aktivieren und deaktivieren konnten, zeigten, dass Munc13 und RIMs die Regeneration von Nervenzellen hemmen“, sagt Hilton. „Die Mechanismen, über die das geschieht, kennen wir nicht. Aber offensichtlich spielen diese Proteine eine wichtige Rolle.“

Tests mit dem Medikament „Baclofen“

Angesichts der Bedeutung der synaptischen Übertragung untersuchten die Forschenden auch, ob eine Abschwächung dieser Übertragung das Wachstum von Axonen förderte. Zu diesem Zweck gaben sie Mäusen mit einer Rückenmarksläsion das Medikament Baclofen. Dieses Arzneimittel verringert die Erregbarkeit von Nervenzellen und die synaptische Übertragung. Beim Menschen wird Baclofen daher eingesetzt, wenn Nervenzellen unkontrolliert feuern, beispielsweise aufgrund spastischer Lähmungen oder einer Rückenmarksverletzung. Untersuchungen an Nervenzellen dieser Mäuse ergaben, dass die Behandlung mit Baclofen tatsächlich Wachstum und Regeneration von Axonen im verletzten Rückenmark anregte. „Daten aus anderen Studien zeigen, dass Baclofen die motorischen Fähigkeiten von Personen mit Rückenmarksverletzungen fördert. Dies könnte mit der Wirkung von Baclofen auf Muskelkrämpfe und unbeschädigte Nervenzellen zusammenhängen. Unsere Ergebnisse legen jedoch nahe, dass Baclofen auch die Regeneration geschädigter Nervenzellen verbessert“, so Bradke. „Insgesamt deuten unsere Daten darauf hin, dass Mechanismen, die die synaptische Übertragung und insbesondere das präsynaptische Endknöpfchen betreffen, die neuronale Regeneration verhindern. Allerdings braucht es noch mehr als nachwachsende Axone, um die Folgen einer Rückenmarksverletzung zu lindern. Die Konsolidierung der neuen synaptischen Schaltkreise ist ebenso wichtig und erfordert die Entwicklung neuartiger Rehabilitationstherapien.“

Originalpublikation

An active vesicle priming machinery suppresses axon regeneration upon adult CNS injury.
Brett J. Hilton et al.
Neuron (2021).
DOI: 10.1016/j.neuron.2021.10.007

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