Wenn der Darm vergesslich macht
Die Entdeckung dass Menschen mit Alzheimer ein verändertes Mikrobiom haben, könnte die Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen beeinflussen.
Das Mikrobiom des Darms verändert sich bei Patientinnen und Patienten mit Alzheimer – eine Entdeckung, die für die Behandlung von neurodegenerativen Erkrankungen weitreichende Folgen haben könnte.
Am Anfang schüttelten viele seiner Kolleginnen und Kollegen bloß den Kopf, als Christoph Laske ihnen eine neue Überlegung vortrug: Was wäre, fragte der renommierte Demenzforscher, wenn der Darm einen direkten Einfluss auf die Entwicklung von Alzheimer hätte? „Noch vor zehn Jahren war fast niemandem bewusst, welche bedeutsame Rolle das Mikrobiom des Darms für die Gesundheit des gesamten Körpers hat“, sagt Laske. Er richtete seine Forschung genau auf diesen Ansatz aus, denn er ist überzeugt: Wenn man die Gesundheit des Darms verbessert, kann man damit gezielt gegen Alzheimer ankämpfen.
Christoph Laske ist schon seit Jahrzehnten in der Demenzforschung aktiv: In Tübingen arbeitet er am DZNE, zugleich leitet er an der Universität die Sektion für Demenzforschung und die spezialisierte Gedächtnisklinik. Für Alzheimer-Experten wie ihn steht seit Jahren ein bestimmtes Protein im Mittelpunkt der Forschung: Amyloid-Beta. Im Gehirn von Patientinnen und Patienten verklumpt es regelrecht: Plaques heißen diese charakteristischen Ablagerungen und noch hat die Wissenschaft bis auf Anti-Amyloid-Antikörper keine Mittel gefunden, um sie aufzulösen oder sogar rechtzeitig zu verhindern.
Mikrobiom im Darm ist anders zusammengesetzt
„Vor ein paar Jahren bin ich auf eine Studie gestoßen, die mich gleich elektrisiert hat“, erinnert sich Christoph Laske. Darin wurden diese Amyloid-Plaques im Gehirn von Mäusen untersucht, deren Genom so verändert wurde, dass sie die Alzheimer-Pathologie im Gehirn entwickeln. Die Forschenden hatten festgestellt, dass die Tiere, wenn sie unter sterilen Bedingungen aufwuchsen und deshalb kein Mikrobiom im Darm hatten, weniger der Amyloid-Ablagerungen im Gehirn entwickelten. „Ich habe mich gefragt, ob das beim Menschen genauso zutrifft und mir war klar: Dazu müssen wir eine Studie machen“, sagt Laske. Mit seinem Team machte er sich umgehend ans Werk: „AlzBiom-Studie“ nannte er das Projekt, das 2017 gestartet ist. Alle Teilnehmer werden seitdem regelmäßig untersucht: Ihre Gedächtnisleistungen werden überprüft, zusätzlich geben sie Stuhlproben ab. „Die Studie läuft zwar noch, aber die ersten Daten liegen schon vor“, sagt Laske – und wie es aussieht, lag er mit seinem ursprünglichen Verdacht richtig: Die Alzheimer-Patienten haben eine andere Zusammensetzung des Mikrobioms im Darm als die gesunden Probanden.
Damit ist der Darm in den Fokus der Gehirnforschung gerückt. Gehirn und Darm haben auch viele Gemeinsamkeiten: Im Darm ist beispielsweise das sogenannte enterische Nervensystem beheimatet, das mehr als viermal so viele Nervenzellen enthält wie das Rückenmark. „Man nennt es auch das zweite Gehirn“, sagt Laske und erläutert, dass die Verbindung nicht nur aus diesem Spitznamen besteht: Der Vagusnerv verbindet Kopf und Bauch, eine regelrechte Autobahn zum Austausch von Informationen; und es gibt verschiedene Botenstoffe, die den Kontakt halten.
NOCH VOR ZEHN JAHREN WAR FAST NIEMANDEM BEWUSST, WELCHE BEDEUTSAME ROLLE DAS MIKROBIOM DES DARMS FÜR DIE GESUNDHEIT DES GESAMTEN KÖRPERS HAT.
Entzündlich-immunologische Prozesse im Hintergrund
Christoph Laske hat sich von seiner Hirnforschung aus inzwischen auch noch zum Experten für den Darm entwickelt. Abermillionen von Mikroorganismen gibt es allein im Mikrobiom des Darms zu untersuchen, etliche Zellen und Stoffwechselprozesse. Aber was hat das alles mit der Demenz zu tun? Christoph Laske holt für seine Antwort etwas weiter aus. Wenn sich Erkrankungen wie Alzheimer entwickeln, laufen im Hintergrund entzündlich-immunologische Prozesse ab – solche Mechanismen sind es, die auch zu den Amyloid-Ablagerungen führen. Und das Immunsystem wiederum hat seine Kommandozentrale im Darm: Das Mikrobiom mit seinen vielen Mikroorganismen sorgt dafür, dass der Körper Krankheitserreger abwehren kann. Rund 70 Prozent der immunologisch aktiven Zellen im menschlichen Organismus befinden sich in der Darmschleimhaut – allein schon deshalb, weil zusammen mit der Nahrung auch Erreger in den Körper gelangen, auf die das Abwehrsystem rasch reagieren muss. Stoffwechselprodukte, die von Darmbakterien produziert werden, wie etwa die kurzkettigen Fettsäuren, beeinflussen direkt die Immunzellen des Gehirns. Diese sogenannten Mikrogliazellen können ebenfalls zum Abbau von Amyloid-Ablagerungen beitragen. So schließt sich wieder der Kreis zu Alzheimer.
Die Frage, über die sich Laske und sein Team jetzt den Kopf zerbrechen, hängt unmittelbar damit zusammen: Wirken sich die Veränderungen im Gehirn von Menschen mit Alzheimer auf die Zusammensetzung des Darmmikrobioms aus? Oder ist es umgekehrt: Der Darm steht am Anfang des Prozesses, und weil dort etwas nicht stimmt, bilden sich im Gehirn die Amyloid-Ablagerungen mit ihren weitreichenden Folgen? Diese simple Frage eröffnet die Chance auf eine Behandlungsmöglichkeit für Alzheimer: Wenn man gezielt die Zusammensetzung des Mikrobioms im Darm verändert – lassen sich dann damit nicht die pathologischen Prozesse im Gehirn stoppen? Müsste also ein Alzheimer-Medikament gar nicht im Gehirn ansetzen, sondern vielmehr bei der Darmgesundheit?
Mikrobiom als Frühwarnsensor
Eins steht bereits jetzt fest: Das Mikrobiom kann als Frühwarnsensor eingesetzt werden. Das Tückische bei Demenzerkrankungen wie Alzheimer ist, dass sie sich über Jahre und oft Jahrzehnte entwickeln, ohne dass die Patienten auch nur die kleinste Änderung spüren. Und wenn sie dann viel später wegen erster Auffälligkeiten zum Arzt gehen, hat die Krankheit im Gehirn schon irreversible Schäden angerichtet, die so schwerwiegend sind, dass es für eine wirkungsvolle Behandlung oft zu spät ist. Forscher haben inzwischen in Tierexperimenten herausgefunden, dass sich die Zusammensetzung des Darmmikrobioms bereits vor der Ablagerung von Amyloid-Plaques im Gehirn verändert. Wenn man den Darm untersucht, so die Hoffnung, lassen sich dadurch neurodegenerative Erkrankungen wie etwa Alzheimer so frühzeitig entdecken, dass man noch gegensteuern kann. Erste Versuche der Tübinger Forschungsgruppe von Christoph Laske sehen vielversprechend aus: Wenn sie sowohl die Bakterien im Darm als auch die damit assoziierten Stoffwechselprozesse unter die Lupe nehmen, können sie bereits mit einer Treffergenauigkeit von mehr als 80 Prozent feststellen, ob die untersuchte Person an Alzheimer erkrankt ist oder nicht.
Noch spannender wird die Entdeckung, wie eng Darm und Hirn verbunden sind, wenn man auch andere Erkrankungen als die Demenz mit einbezieht: Bei Depressionen, Angststörungen, Autismus und Psychosen hat die Forschung schon einen Zusammenhang zum Darmmikrobiom festgestellt. Und beim DZNE laufen mehrere Forschungsprojekte, in denen eine Verbindung des Darms zu weiteren neurodegenerativen Erkrankungen im Mittelpunkt steht. Dass beispielsweise Parkinson ebenfalls mit dem Darm korreliert, darauf gibt es erste Hinweise. Welche Mechanismen aber ablaufen und wie die Medizin künftig vielleicht sogar eingreifen könnte – da stehen die Forschenden noch am Anfang ihrer Suche. „Immerhin haben wir jetzt eins festgestellt“, sagt Christoph Laske: „Als Hirnforscher finden wir die Antworten auf viele unserer Fragen möglicherweise nicht im Kopf, sondern im Darm.“
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Dieser Artikel erschien in der SYNERGIE-Ausgabe #1 | 2023
Text: Kilian Kirchgeßner