"Ziel muss es sein, den Ausbruch von Demenzsymptomen zu verhindern"
Interview mit Prof. Mathias Jucker
Das sogenannte Amyloid – ein Eiweißstoff, der sich bei Alzheimer im Gehirn ansammelt – gilt schon lange als möglicher Ansatzpunkt für eine Behandlung dieser häufigsten Demenzerkrankung. Doch erst in jüngster Zeit brachten entsprechende Arzneimittel in Studien am Menschen die erhoffte Wirkung. Inzwischen ist in den USA mit „Lecanemab“ ein Anti-Amyloid-Medikament auf dem Markt, für Europa läuft das Genehmigungsverfahren. Für „Donanemab“ – ein ähnlicher Wirkstoff eines anderen Herstellers – wird die Zulassung von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde derzeit geprüft. Beide Substanzen haben in klinischen Untersuchungen gezeigt, dass sie im Frühstadium einer Alzheimer-Erkrankung die Menge an Amyloid im Gehirn verringern und den Verfall der geistigen Leistungsfähigkeit etwas verlangsamen können. Bislang gibt es jedoch noch keine Langzeiterfahrung mit diesen neuen Medikamenten und der klinische Nutzen ist bescheiden. Insofern stellt sich schon jetzt die Frage: Wie kann die Anti-Amyloid-Therapie verbessert werden? Prof. Mathias Jucker äußert sich zum Forschungsbedarf.
Herr Jucker, wie schauen Sie auf die aktuelle Entwicklung der Anti-Amyloid-Therapie?
Nach Jahren des Stillstands und der Rückschläge hat das Feld eine ziemliche Dynamik bekommen. Die neuen Anti-Amyloid-Medikamenten bieten erstmals die Möglichkeit, gegen die Ursachen von Alzheimer vorzugehen. Die traditionellen Therapien wirken ja nur symptomatisch. Sie lindern die Beschwerden, verhindern jedoch nicht, dass die Erkrankung im Gehirn voranschreitet. Die Situation ändert sich durch die neuen Medikamente. Zwar sind sie kostspielig, ihr Einsatz aufwändig und sie können die Erkrankung nicht aufhalten. Doch sie verlangsamen etwas deren Verlauf und den Abbau der geistigen Fähigkeiten. Das ist ein echter Fortschritt. Anderseits muss man abwarten, wie sich diese neue Therapie in der Praxis bewährt. Die bisherigen Erfahrungen stammen ja alle aus klinischen Studien.
Wie funktionieren diese Wirkstoffe?
Es handelt sich um künstlich hergestellte Antikörper, die bislang per Infusion verabreicht werden müssen. Über die Blutbahn gelangen sie ins Gehirn und binden an das Amyloid. Diese molekulare Markierung hat eine Signalwirkung auf Immunzellen des Gehirns, die das Amyloid daraufhin beseitigen. Man geht jedenfalls davon aus, dass dies der relevante Prozess ist. Tatsächlich weiß man das nicht ganz genau. Fakt ist gleichwohl, dass die Verabreichung dieser Antikörper die Amyloid-Ablagerungen im Gehirn deutlich reduziert und der Verfall der geistigen Fähigkeiten ein gebremst wird, auch wenn der klinische Gesamtnutzen bisher bescheiden war.
Wie ließe sich die Wirkung verbessern?
Dafür gibt es mehrere Ansatzpunkte. Zum einen gilt es, diese Antikörper zu optimieren. Dabei geht es einerseits darum, dass sie in möglichst großer Menge ins Gehirn gelangen. Das ist nicht selbstverständlich, denn das Gehirn hat eine natürliche Barriere, die es zu überwinden gilt. Und anderseits geht es darum, wo diese Antikörper an das Amyloid binden.
Original Publikation
Alzheimer disease: From immunotherapy to immunoprevention.
Mathias Jucker und Lary C. Walker.
CELL (2023).
DOI: https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(23)00910-8
Das müssen Sie erklären
Im Zuge der Alzheimer-Erkrankung verkleben einzelne Amyloid-Moleküle zu immer größeren Aggregaten. Je nach Größe sind diese in Lösung oder lagern sich als sogenannte Plaques im Gehirn ab. Es gibt daher ein weites Spektrum an Amyloid-Formen, das sich im Verlauf der Erkrankung verändert und sich auch von Patient zu Patient in einem gewissen Maße unterscheidet. Nach allem was wir wissen, sind manche dieser Amyloid-Formen schädlicher als andere. Solche Amyloid-Aggregate sind komplexe molekulare Gebilde. Da gibt es prinzipiell viele Stellen, an die ein Antikörper andocken kann.
Was heißt das für die verfügbaren Wirkstoffe?
Die unterschiedlichen Antikörper, die man bisher getestet hat, binden an verschiedene Stellen und an Amyloid-Aggregate unterschiedlicher Größe. Was optimal wäre, um das Amyloid möglichst effektiv zu beseitigen, weiß man noch nicht. Das könnte auch von der Krankheitsphase abhängen, weil sich das Spektrum an Amyloid-Formen im Verlauf der Erkrankung verändert. Um hier weiterzukommen, wären Studien hilfreich, die verschiedene Antikörper unter einheitlichen Bedingungen miteinander vergleichen. Und man benötigt auch Untersuchungen der molekularen Struktur der verschiedenen Amyloid-Formen. Grundsätzlich ist es aber wichtig, so früh wie möglich mit der Behandlung zu beginnen.
Weil man sonst zu spät ansetzt?
Sozusagen. Denn vieles deutet daraufhin, dass eine Alzheimer-Erkrankung mindestens 20 Jahre beginnt bevor Symptome auftreten und in zwei Phasen verläuft. Demnach ist zu Beginn das Amyloid der Krankheitstreiber. Die zunehmende Verklumpung der Amyloid-Moleküle ist quasi der Dominostein, der alles Weitere anstößt. In der zweiten Phase kommen weitere Phänomene hinzu. Es kommt zu Entzündungsprozessen und es aggregiert ein weiteres Protein: das sogenannte Tau-Protein. Man vermutet, dass dieser Übergang rund zehn Jahre passiert, bevor sich Symptome einer Demenz bemerkbar machen. In dieser zweiten Phase ist das Amyloid offenbar nicht mehr der einzige Krankheitstreiber, die Situation ist nun viel komplexer. Deshalb hat zu diesem Zeitpunkt eine alleinige Anti-Amyloid-Therapie nur begrenzte Wirkung. Das hat man ja in den jüngsten Studien beobachtet. Alle Probanden hatten zu Studienbeginn schon leichte Symptome von Demenz. Hinsichtlich der Symptomatik waren sie im Frühstadium, aber was die Prozesse im Gehirn angeht, war die Erkrankung schon einige Schritte weiter. Vermutlich deshalb konnten die Antikörper den Krankheitsverlauf zwar verlangsamen, aber nicht stoppen. Effektiver wäre in dieser Situation vermutlich eine Kombinationstherapie, die auf verschiedene Krankheitsprozesse abzielt.
Wie früh sollte die Behandlung beginnen?
Ziel muss es sein, von der Behandlung zur Prävention zu kommen. Also den Ausbruch von Demenzsymptomen zu verhindern oder zumindest soweit wie möglich zu verzögern. Sind die Symptome von Demenz schon da, wird eine wirksame Behandlung immer schwieriger. Die aktuellen Amyloid-Antikörpern können den Verlauf der Erkrankung dann zwar noch verlangsamen. Aber wir wollen in der Zukunft natürlich mehr erreichen. Es gilt daher, den optimalen Zeitpunkt für eine Behandlung zu finden, es geht um bessere Früherkennung und wir müssen auch herausfinden, wie oft und über welche Zeiträume eine Behandlung stattfinden sollte. Ein Schlüssel dafür sind sogenannte Biomarker, das sind Indikatoren, die uns verraten, was genau im Gehirn passiert. Dafür eignen sich Messwerte, die man aus dem Blut, dem Nervenwasser oder aus sogenannten PET-Hirnscans ablesen kann. Diese Möglichkeiten werden schon genutzt. Aber zum Teil sind die bisherigen Biomarker nicht aussagekräftig genug oder man versteht noch nicht genau, was sie bedeuten. Forschung zu Biomarkern ist daher ein Schwerpunkt des DZNE, insbesondere auch in meiner Arbeitsgruppe.
Die bisherigen Amyloid-Antikörper sind ja auch nicht frei von Nebenwirkungen
Das ist richtig und eine weitere Stellschraube, an der man drehen muss. Eine Nebenwirkung, die man in den klinischen Studien beobachtet hat, sind Schwellungen um die Blutgefäße des Gehirns und kleine Blutungen. Die hat man aus Gehirnscans erkannt. Aber tatsächlich haben die meisten Betroffenen davon nichts gemerkt oder sie hatten nur leichte Beschwerden. Schwindel etwa. In den Studien haben sich diese Anomalien auch meist zurückgebildet, wenn die Dosierung der Antikörper angepasst wurde. Drei Studienteilnehmer sind aber leider verstorben, ihr Tod wurde mit der Einnahme von Blutverdünnern und bestimmten genetischen Veranlagungen in Verbindung gebracht. Diese Einflüsse müssen wir besser verstehen und die Behandlungsrisiken minimieren. Es hat sich auch herausgestellt, dass Amyloid-Ablagerungen in den Blutgefäßen der Hauptrisikofaktor für all diese Nebenwirkungen sind.
Was hat es damit auf sich?
Typisch für Alzheimer sind ja Amyloid-Ablagerungen im Hirngewebe zwischen den Nervenzellen. Viele Menschen mit Alzheimer haben solche Ablagerungen aber auch in den Hirngefäßen. Laborexperimente deuten darauf hin, dass diese Ablagerungen das Risiko von Hirnblutungen erhöhen, wenn Amyloid-Antikörper verabreicht werden. Das ist ein weiteres Argument dafür, mit einer Behandlung frühestmöglich zu beginnen. Denn die Belastung der Blutgefäße mit Amyloid ist im Frühstadium von Alzheimer noch nicht so hoch. Grundsätzlich gilt es daher, wie bei jeder Therapie, Nutzen und Risiken abzuwägen. Ich bin aber zuversichtlich, dass es gelingen wird, die Risiken einer Behandlung mit Amyloid-Antikörpern zu verringern und zugleich die Wirksamkeit zu erhöhen. Ich denke, wir stehen da noch am Anfang der Entwicklung.
Prof. Dr. Mathias Jucker ist Forschungsgruppenleiter am DZNE-Standort Tübingen und am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung. Er befasst sich mit den Mechanismen der Hirnalterung und altersbedingter neurodegenerativer Erkrankungen – und forscht insbesondere zu den molekularen Prozessen der Alzheimer-Erkrankung.
September 2023, Interview: Marcus Neitzert