Coaching, Axone und Ökosysteme
Interview mit dem Neurobiologen Frank Bradke über Forschung zu Rückenmarksverletzungen
In Deutschland leben nach Schätzungen rund 140.000 Menschen mit einer Querschnittslähmung. Häufig hervorgerufen durch Verletzungen der Wirbelsäule und der darin verlaufenden Nervenfasern infolge eines Unfalls. Aber auch Krebs und andere Erkrankungen können das Rückenmark schädigen. Das Problem: Den Nervenleitungen des Rückenmarks (wie auch denen des Gehirns) fehlt die Fähigkeit zur Selbstheilung. Werden sie beschädigt oder gar durchtrennt, kann es zur dauerhaften Lähmung oder anderen schwerwiegenden Folgen kommen, wie etwa Problemen mit Darm und Blase. Vor diesem Hintergrund untersucht Frank Bradke, - Forschungsgruppenleiter am DZNE, Professor an der Universität Bonn und Mitglied im Exzellenzcluster ImmunoSensation -, gemeinsam mit seinem Team, wie Nervenzellen wachsen, und ob es möglich ist, dieses Wachstum nach einer Nervenschädigung gezielt zu aktivieren. Als Grundlagenforscher nimmt er die Mechanismen des Nervenwachstums am Beispiel von Zellkulturen, Mäusen und Ratten in Augenschein – damit möchte er den Weg für bessere Behandlungsmöglichkeiten beim Menschen bereiten. Für seine herausragende Forschung wurde der Bonner Neurobiologe schon mehrfach ausgezeichnet. Im Interview, anlässlich der Verleihung des Akademiepreises der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2024, erzählt Frank Bradke unter anderem, warum er sich als „Teamcoach“ sieht und weshalb Nervenverletzungen in einem „Ökosystem“ stattfinden.
Herr Bradke, wie haben Sie von dem Akademiepreis erfahren?
Das geschah sozusagen ganz klassisch. Ich habe einen Brief erhalten und mich wirklich riesig gefreut. Der Akademiepreis wird ja für Forschung in den unterschiedlichsten Fachgebieten verliehen. Dass gerade ich, als Neurobiologe, diese Auszeichnung erhalte, empfinde ich als besondere Ehre. Es ist aber auch eine Anerkennung für unser gesamtes Team. Unsere Forschung ist eine Teamleistung. Ich bekomme den Preis stellvertretend für die Arbeit, die in unserem Labor gemacht wird. Und tatsächlich stehe ich selten selbst im Labor, sondern bin eher wie ein Fußballtrainer. Die Tore schieße nicht ich, sondern andere. Denn die eigentliche Forschung machen Postdocs, Doktoranden, Studenten und labortechnische Assistenten. Ihre Arbeit spiegelt sich in dieser Auszeichnung wider. Wir haben den Preis deshalb auch gebührend gefeiert. Mit einem gemeinsamen Abendessen.
Wie groß ist Ihr Team?
Wir liegen so in der Größe einer Fußballmannschaft. Im Laufe der Jahre habe ich immer darauf geachtet, diese Größe relativ konstant zu halten. Es gibt eine Effizienzgrenze. Es ist schwierig, ein Forschungsteam zu managen, wenn es zu groß wird. Dann müsste es zusätzliche Personalstrukturen geben. Mir ist es aber wichtig, dass ich meine Leute direkt betreue und mich unmittelbar mit allen austauschen kann. Dieses Coaching macht mir große Freude. Und ich finde es toll, dass viele meiner früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inzwischen eigene Forschungsteams an anderen Instituten aufgebaut haben. Mit ihrem Wissen und ihrem Engagement haben sie unsere Forschungsgruppe über alle die Jahre vorangebracht. Und mittlerweile sind sie, gewissermaßen vom Feldspiel, selbst ins Trainerlager gewechselt.
In den vergangenen Jahren haben Sie diverse Auszeichnung erhalten. Was bedeuten diese für Sie?
Auszeichnungen sind natürlich großartig, aber auch immer ein Ansporn, sich nicht auf Lorbeeren auszuruhen. Die neurowissenschaftliche Forschung ist sehr wettbewerbsorientiert, man möchte sich daher immer wieder aufs Neue beweisen. Diese Preise bringen es nun mit sich, dass ich häufiger zu Vorträgen und Konferenzen eingeladen werde. Das ist einerseits spannend und inspirierend, denn solche Gelegenheiten zum Austausch mit anderen Fachleuten sind enorm wichtig. Anderseits achte ich darauf, meine Reisetätigkeiten in Grenzen zu halten, weshalb ich manche Einladung dann doch nicht annehme. Das ginge sonst zu Lasten meiner eigentlichen Arbeit.
2016 erhielten Sie den Leibniz-Preis, den wichtigsten Forschungspreis hierzulande, dotiert mit 2,5 Millionen Euro. Wie hat sich das ausgewirkt?
Der Leibniz-Preis war ein echter Boost. Der Preis hat mir große Forschungsfreiheit und Planungssicherheit gegeben. Dadurch konnten wir entscheidende Projekte optimal anschieben, exzellente Forscherinnen und Forscher anwerben und unsere Labortechnik optimal aufrüsten. Das ermöglichte uns, endlich die molekularen Prozesse von Nervenverletzungen untersuchen zu können und Regeneration auf molekularer Ebene besser zu verstehen. Als ich damals den Leibniz-Preis bekommen habe, war das nur eine Perspektive, inzwischen ist das Praxis in unserem Labor. Ein anderer Aspekt: Wir schauen uns unter anderem bei Ratten an, was Rückenmarksverletzungen bewirken und wie man deren Folgen abmildern kann. Dafür muss man die Bewegungsabläufe der Tiere präzise erfassen. Das machen wir mit spezieller Kamera-Technik und Software. Auch dafür konnte ich dank des Leibniz-Preises wichtige Gerätschaften anschaffen.
Wir verstehen die molekularen Mechanismen, die beim Wachstum von Nervenzellen eine Rolle spielen, immer besser. Da ist zunächst die Einsicht, dass Nervenzellen entweder wachsen oder miteinander kommunizieren können. Aber nicht beides zugleich.
Was sind wichtige Befunde aus Ihrer Forschungsgruppe aus den vergangenen Jahren?
Wir verstehen die molekularen Mechanismen, die beim Wachstum von Nervenzellen eine Rolle spielen, immer besser. Da ist zunächst die Einsicht, dass Nervenzellen entweder wachsen oder miteinander kommunizieren können. Aber nicht beides zugleich. In der frühen Entwicklung eines Menschen, insbesondere während der Embryonalphase, wachsen Nervenzellen und bilden lange Fortsätze, die sogenannten Axone, sodass sich Nervenzellen untereinander verbinden und letztlich ein komplexes Leitungsnetz entsteht. Solche Axone können, vor allem im menschlichen Rückenmark, viele Zentimeter lang werden …
… Wenn man von Nervenwachstum spricht, dann bezieht sich das also im Wesentlichen auf das Axon?
Korrekt. Und wenn ein Axon schließlich eine andere Nervenzelle erreicht, wird dieses Wachstum eingestellt. Die Fähigkeit zum Wachstum ist dann grundsätzlich gehemmt. Genau das beobachtet man beim ausgereiften Nervensystem eines Erwachsenen. Was dann jedoch ins Spiel kommt, ist die Fähigkeit von Nervenzellen, ihre Kontaktstellen anzupassen. Über diese Kontaktstellen, man nennt sie auch „Synapsen“, tauschen Nervenzellen Signale aus, reden also miteinander. Unsere Studien deuten darauf hin, dass Nervenzellen ihr Wachstumsprogramm aktiv runterregulieren, wenn ihre Axone andere Nervenzellen erreicht haben. Wir haben ein Gen gefunden, dass hierbei eine Rolle spielt. Es ist an der Ausbildung von Synapsen beteiligt. Um beschädigte Nervenzellen nachwachsen zu lassen, ist es daher notwendig, den Prozess der neuronalen Entwicklung zu reaktivieren und die Uhr gewissermaßen zurückzustellen.
Sie haben sich auch mit der Rolle des Zellskeletts befasst.
In der Tat. Hier geht es um die sogenannten Mikrotubuli und um das Aktin. Die Mikrotubuli sind Biopolymere, also langgestreckte Moleküle, und bilden sozusagen das innere Gerüst der Axone. Die Aktin-Moleküle wiederum liegen dicht unter der Zelloberfläche und zwar am vorderen Ende des Axons, im sogenannten Wachstumskegel. Sie kleiden den Wachstumskegel von innen mit einer netzartigen Struktur aus. Damit ein Axon wachsen kann, müssen sich einerseits die Mikrotubuli verlängern. Anderseits muss sich das Aktin-Netz auflockern, damit die sich verlängernden Mikrotubuli hindurchstoßen können. Ist das Aktin-Netz zu engmaschig und gespannt, geht das nicht. Wir haben nun einerseits festgestellt, dass zwei Proteine namens Cofilin und ADF auf die Mechanik des Zellgerüsts einwirken und damit auf die Wachstumsfähigkeit der Axone. Anderseits haben wir chemische Wirkstoffe gefunden, die das Wachstum anregen.
Das sind alles Geschehnisse in der Nervenzelle. Wie kommt denn nun das sogenannte Narbengewebe ins Spiel?
Rückenmarksverletzungen sind häufig Folge einer mechanischen Einwirkung von außen. Und die trifft nicht nur auf Nervenzellen, sondern sie verletzt meist auch das umliegende Gewebe. Dort kann es zu Blutungen und Schwellungen kommen, die sich wiederum negativ auf die Nervenzellen auswirken. Das sind dann Folgeschäden. Jedenfalls verändert sich das Gewebe rund um den verletzten Nervenstrang. Das geschieht genau genommen nicht nur aufgrund der mechanischen Einwirkung, sondern auch, weil der Körper versucht, die Verletzung zu reparieren. Und dabei entsteht Narbengewebe. Das hat einerseits eine Schutzfunktion, andererseits werden davon Hemmstoffe ausgeschüttet, die die Nervenregeneration verhindern.
Das klingt alles ziemlich komplex.
Ja, das ist es auch. Die Herausforderung bei Nervenverletzungen besteht darin, dass zahlreiche Vorgänge ineinandergreifen. Es gibt nicht nur ein Spielfeld, sondern viele. Und es sind dabei auch viele verschiedene Zelltypen von Bedeutung. Es geht nicht um die Nervenzelle allein, im Gewebe drum herum gibt es eine Vielfalt sogenannter Gliazellen, die in unterschiedlicher Weise mit der Nervenzelle interagieren. Das sind beispielsweise Immunzellen oder jene Zellen, die den Axonen eine Art elektrischen Isoliermantel verpassen, damit es bei der Leitung von Nervensignalen nicht zu Kurzschlüssen kommt. Ich stelle mir das Ganze wie ein Ökosystem vor, in das ein Eingriff erfolgt und dadurch ganz verschiedene Prozesse getriggert werden. Das macht Nervenverletzungen so kompliziert.
Ist „RhoA“ so etwas wie ein Knotenpunkt in diesem System?
So sehen wir das. RhoA ist ein Schlüssel-Protein. Wir haben herausgefunden, dass es das axonale Wachstum drosselt, indem es die Mikrotubuli aus der Wachstumszone des Axons verdrängt. Zugleich interagiert RhoA mit zahlreichen Signalwegen. Es reagiert offenbar insbesondere auf inhibitorische Signale, die von außen auf die Nervenzelle einwirken. Zum Beispiel Botenstoffe aus dem Narbengewebe. Wir verstehen inzwischen tatsächlich immer besser, wie die verschiedenen Akteure und Signalkaskaden zusammenspielen.
Woran arbeiten Sie zurzeit?
Wir simulieren zum Beispiel das Wachstum der Mikrotubuli am Computer, um die zugrundeliegenden Prozesse besser verstehen zu können. Die Frage ist unter anderem, woher das ganze Material kommt, das die Zelle benötigt, um Mikrotubuli herzustellen. Und auf experimenteller Seite, also in Tierversuchen, kombinieren wir inzwischen verschiedene Wirkstoffe. Im Laufe der Jahre haben wir einige Substanzen gefunden, die die Nervenregeneration anregen und an unterschiedlichen Stellen setzen. Insofern liegt es nahe, diese Wirkstoffe zu kombinieren. Ein weiterer Aspekt ist Reha, also Physiotherapie. Man weiß von Patienten mit Rückenmarksverletzungen, dass solche Maßnahmen sehr wirksam sein können. Im Tiermodell, versuchen wir diese Wirkung nachzuvollziehen und den Mechanismen dahinter auf den Grund zu gehen. Falls bei einer Verletzung nicht sämtliche Nervenleitungen beschädigt werden, können die unversehrten Leitungen einiges wettmachen. Das Nervensystem ist grundsätzlich sehr anpassungsfähig. Physiotherapie kann diese Veranlagung offenbar anregen und trainieren.
Was tut sich denn allgemein in Ihrem Forschungsbereich?
Schon länger arbeitet man an der Transplantation von Stammzellen. Dadurch sollen verletzte Nervenverbindungen repariert werden. Aktuell ist es auf diesem Gebiet jedoch relativ ruhig. In jüngster Zeit gab es dafür einige beeindruckende Ergebnisse mit Elektrostimulation.
Um was geht es dabei?
Bei einer Querschnittslähmung kommen die Steuersignale des Gehirns nicht bei den Muskeln an, weshalb die betroffenen Personen ihre Gliedmaßen nicht spüren und nicht bewegen können. Bei der Elektrostimulation geht es nun darum, die Muskeln mit Elektroden anzusteuern, die entweder implantiert oder auf der Haut platziert werden. Es gibt da verschiedene Ansätze. Und in der Tat ist es schon gelungen, auf diese Weise ein gewisses Gefühl in den Gliedmaßen und sogar Bewegungsfähigkeit wiederherzustellen. Manche Patienten konnten sogar wieder laufen, zwar mit Einschränkungen, aber diese Ergebnisse sind trotzdem bemerkenswert. Allerdings sind diese Ergebnisse nicht nur auf moderne Technik zurückzuführen, körperliches Training spielte ebenfalls eine wichtige Rolle. Auch hier zeigt sich: Reha-Maßnahmen können einiges bewirken.
Bekommen Sie eigentlich Anfragen von Betroffenen?
Ja und die Leute sind häufig ziemlich verzweifelt. Es geht hier schon um sehr schwere Schicksale. Es tut mir jedes Mal leid, dass ich den Betroffenen nicht direkt helfen kann. Ich bin ja kein Arzt, sondern Grundlagenforscher. Aber meine Motivation ist ganz klar, dass unsere Forschung dazu beiträgt, dass es langfristig bessere Therapieoptionen gibt. Schon eine kleine Verbesserung der Sensorik oder Motorik kann für Menschen mit Querschnittslähmung ein Plus an Lebensqualität bedeuten. Ich bin davon überzeugt, dass die Forschung hier noch einiges bewegen kann. Man braucht dafür aber einen langen Atem. Effektive Therapien oder gar Heilung kann nur über das Verständnis der Grundmechanismen gehen. Daran führt kein Weg vorbei.
Juni 2024, Interview: Marcus Neitzert