„Fliegende“ Neurone
Eine aktuelle Studie an Fruchtfliegen liefert neue Erkenntnisse über die zellulären Grundlagen des Gedächtnisses. Forschende des DZNE und Fachleute aus den USA präsentieren die Ergebnisse im Wissenschaftsjournal „Cell Reports“.
Nomen est omen: Fruchtfliegen lieben Obst. Im Frühling und Sommer fallen die winzigen Insekten deshalb in viele Küchen und überall dort ein, wo sie Nahrung finden – insbesondere Früchte im überreifen Zustand. Die Insekten sind aber auch in vielen Labors anzutreffen, denn sie zählen zu den meist untersuchten Modellorganismen. „Trotz aller Unterschiede zwischen Mensch und Fliege gibt es bemerkenswerte Gemeinsamkeiten, besonders wenn man grundlegende biologische Phänomene auf zellulärer oder molekularer Ebene betrachtet. Deshalb können wir von den Fruchtfliegen einiges über uns Menschen lernen“, erläutert Prof. Gaia Tavosanis, Forschungsgruppenleiterin am DZNE-Standort Bonn.
Fliegen zum Beispiel teilen mit Menschen die Fähigkeit, zu lernen und ihr Verhalten aufgrund von Erfahrungen zu ändern. Während manche Eindrücke kurzlebig sein mögen, können uns wichtige Erinnerungen über lange Zeiträume hinweg begleiten. In der aktuellen Studie untersuchten Tavosanis und Kollegen – darunter Wissenschaftler vom HHMI’s Janelia Research Campus im US-Bundestaat Virginia –, was im Gehirn geschieht, wenn sich eine frische Erinnerung zu einer dauerhaften verfestigt.
Um dieser Frage nachzugehen, nutzten die Forschenden die Fähigkeit der Fruchtfliege „Drosophila melanogaster“, sich die Verknüpfung zwischen einem Geruch und einer Belohnung einzuprägen. Bei diesem klassischen Konditionierungsexperiment wird es den Fliegen ermöglicht, sich von Zucker zu ernähren, während sie einem Geruch ausgesetzt sind. Genau wie der berühmte „Pawlow‘sche Hund“ können sich die Fruchtfliegen an die Verbindung des Geruchs mit der süßen Belohnung tagelang erinnern und werden den dazugehörigen Duft gegenüber anderen bevorzugen.
Zelluläre Neuverdrahtung
„Mittels verschiedener Mikroskopie-Techniken, kombiniert mit sorgfältig entwickelten genetischen Werkzeugen, haben wir die Nervenzellen untersucht, die Informationen über diesen speziellen Geruch an höhere Verarbeitungszentren im Gehirn der Fliege weiterleiten. Wir fanden dabei heraus, dass diese Zellen ihre Schaltkreise umorganisieren und mehr Verbindungen zu benachbarten Nervenzellen aufbauen. Das geschieht erst nachdem sich der erste kurzlebige Eindruck zur einer Langzeit-Erinnerung der Verknüpfung von Geruch und Zucker verfestigt hat“, erläutert Luigi Prisco, einer der Erstautoren der aktuellen Studie.
„Diese Veränderungen in bestimmten Schaltkreisen des Gehirns sind recht bemerkenswert, da sie eine enge Koordination zwischen mehreren Zelltypen erfordern“, so Tavosanis. „Es scheint, dass nach einer wichtigen Erfahrung die Art und Weise, wie der Geruch im Gehirn repräsentiert wird, verändert werden kann. Künftige Experimente werden zeigen, inwieweit diese Phänomene auch für ähnlich organisierte Schaltkreise in anderen Organismen gelten - einschließlich Säugetieren.“
Originalveröffentlichung
Circuit reorganization in the Drosophila mushroom body calyx accompanies memory consolidation.
Lothar Baltruschat, Luigi Prisco, Philipp Ranft et al.
Cell Reports (2021).
DOI: 10.1016/j.celrep.2021.108871
März 2021